Fortsetzungsroman

Beitrag 76

Sie riefen Yan an, der sie mit Silas Kadett abholte. Gemeinsam fuhren sie stadteinwärts auf der Königsallee. Als auf der rechten Seite der Arbeitgeberverband in Sicht kam, stoppte Sila plötzlich.
Was hatte wohl der Unbekannte für sie, der gerade so geheimnisvoll am Telefon tat?
„Gleich, sechs Uhr an der Hausmeisterwohnung am Arbeitgeberverband. Hab ich mal gewohnt“, hatte er nur gesagt und einfach aufgelegt.
Plötzlich hatte sie einen Geschmack von Schaumkuss im Brötchen im Sinn, aus dem Lädchen von Elli Altegoer gegenüber. „Das muss jetzt aber warten, erst will ich wissen, was er hat. Vielleicht das Buch?“, dachte sie mutig, obwohl ihr nach dem Überfall auf dem Tippelsberg etwas mulmig war, einen Unbekannten zu treffen. Aber jetzt war sie ja nicht alleine.
„Da, hinter der Gardine steht jemand“, sagte sie und stieg aus.

Beitrag 77

Aus der Nähe betrachtet entpuppte sich die vermeintliche Person hinter der Gardine als Stapel Pappkartons. Die Wohnung schien unbewohnt, weder an der Türklingel noch am Briefschlitz fand sich ein Name. Yan klingelte. Nichts passierte.
Es war erst zehn vor sechs. Also beschlossen die drei zu warten.
Ray angelte den Stadtspiegel aus dem Briefschlitz und zeigte auf den Titel: „Was ist MARK 51°7?“
„Auf‘m ehemaligen OPEL-Areal entsteht ein Wissenschafts- und Technologiequartier. Tja, Bochum is‘ halt nich‘ mehr nur Pütt, Büdchen und Himmelbett für Tauben – in Sachen Strukturwandel spielen wir Champions League!“, erklärte Yan grinsend.
Plötzlich fügten sich für Sila zwei Puzzleteile zusammen: 51,70 Mark im Umschlag, na klar! Das war der Beweis, dass Kaya ihr tatsächlich ein Rätsel hinterlassen hatte; Uli hatte keine Ahnung.

Beitrag 78

„Warum sollte dein Vater wollen, dass wir in dieses Gewerbegebiet fahren?“, fragte Ray und runzelte die Stirn. „It makes no sense, not at all. Oder warum hat er dir ausgerechnet 51,70 D-Mark hinterlassen, Sila?“.
Sila sah ihren Mann fragend an.
„Na, es ist ein Code, Schlauberger“, sagte Yan. „Wir sollten besser darüber nachdenken, was wir wissen, statt uns um Kopf und Kragen zu philosophieren! Natürlich werden die Zahlen eine Bedeutung haben, behalten wir sie erstmal im Hinterkopf“, sagte Yan plötzlich leiser werdend. Ein Mann kam um die Ecke und näherte sich ihnen zielstrebig.
„Guten Tag“, sagte der Fremde und nickte den Dreien zu. Sila erkannte sofort die Stimme des unbekannten Anrufers.

Beitrag 79

In Silas Kopf drehte sich alles ... mal wieder. Wo hatte der Unbekannte eigentlich ihre Telefonnummer her und – war er überhaupt ein Unbekannter? Irgendwie kam ihr seine Stimme bekannt vor. Dieses Sonore im Unterton, fast beruhigend. Wie ein Pastor, der seinen Schäfchen klar machen will, dass sie keine Angst vor der Zukunft haben müssen ... nur Vertrauen. Vertrauen und Vernunft, Liebe, Respekt und Dankbarkeit. Mit einem innerlichen Ruck konzentrierte sie sich wieder auf den Augenblick und schaute den Mann fragend an. „Fragen Sie nicht, woher ich Ihre Nummer habe, welche Rolle ich in diesem verrückten, unglaublichen und doch so einfachen Rätsel spiele“, sagte der Mann. Dann gab er ihr einen kleinen Anhänger mit einem Fußball daran.

Beitrag 80

Silas Augen wurden plötzlich ganz groß. „Dieser… nein, das kann doch nicht“, stotterte sie und drehte an dem kleinen Ball, der mit einem kurzen „Klick“ einen Schlüssel offenbarte. „Das war der Anhänger von meinem Vater! Ich weiß, wofür der Schlüssel ist. Er hatte immer so ein Schließfach am Hauptbahnhof“, sagte Sila zu Yan und Ray, die sich weniger auf das Geschehen konzentrierten und mehr darauf, sich gegenseitig zu mustern. Mit diesem Problem musste sie sich zu einem anderen Zeitpunkt beschäftigen, jetzt wollte sie erst einmal die Identität des unbekannten Mannes klären – doch der war schon wieder verschwunden. „Ich werde hier noch verrückt“, klagte Sila und sprach zu sich selbst: „Okay, sammle dich. Das Buch ist erstmal weg, aber ich habe noch vier Hinweise, denen ich nachgehen kann: das Familiengrab im Kortumpark, Mark 51°7, die handschriftliche Notiz von Papa und jetzt der Schlüssel.“

Beitrag 81

Sila fiel ein, dass der Kortumpark gleich hinter dem Hauptbahnhof lag. Sie erzählte Ray und Yan von Pfarrer Gregors Hinweis auf die dortigen Familiengräber. „Und wenn wir schon dort sind, können wir gleich im Bahnhof nach dem Schließfach suchen“, fügte sie hinzu.
Nachdem sie mit etwas Mühe im Alsenviertel einen Parkplatz gefunden hatten, liefen sie zum Kortumpark, der sie mit seinem alten Baumbestand und wohltuender Ruhe empfing. Hier befanden sich die Gräber bekannter Bochumer Persönlichkeiten wie Carl Arnold Kortum, dem berühmten Arzt, Dichter und Namensgeber der Fußgängerzone.
Sila fragte sich, wo hier ein Hinweis zu finden sein sollte. Vielleicht eine Jahreszahl auf einem Grabstein? „Lass uns umhergehen und schauen, ob wir etwas Auffälliges finden“, schlug sie vor.
„Ich glaube, hier ist etwas!“, rief Yan.

Beitrag 82

Yan stand auf einem Vorsprung neben der Grabstätte der Familie Grimberg. Ein großer Engel lehnte am Grabstein und schien über die Toten zu wachen.
„Kommt schnell her und schaut euch das an!“ Yan deutete hektisch ins Gebüsch.
Sila und Ray rannten quer über die Wiese, sprangen flink über viele kleine braune Hügel.
Den Anblick konnte Sila kaum fassen! Dort lag Umut in einem Schlafsack und schnarchte. Neben ihm ruhte die goldgefiederte Taube.
Plötzlich flatterte sie los und landete auf dem Kopf des Engels. Die Patina hatte eine Tränenspur auf den Wangen hinterlassen. Mit seinem langen Blasinstrument im Arm wirkte er, als wollte er bald etwas Wichtiges verkünden.
Umut setzte sich auf und schrie …

Beitrag 83

Das laute Aufflattern der Taube hatte Umut unsanft aus einem Traum gerissen, und nun standen Sila und ihre Freunde völlig überraschend vor ihm.
Sila erzählte von den neuen Ereignissen und zeigte ihm den Schlüsselanhänger.
„Kaya, der olle Geheimniskrämer. Mir hat er nie erzählt, was er in dem Schließfach aufbewahrt, aber Pfarrer Manfred wusste Bescheid und ich denke, dass auch Gregor eingeweiht ist. Gemietet hatte er es vor einigen Jahren direkt nach einem Krankenhausaufenthalt. Manfred hatte da als Seelsorger gearbeitet. Jetzt macht Gregor den Job im Augustakrankenhaus."
Sila wurde unruhig – es kam Bewegung in die Rätselreise. Sie kniete sich vor Umut hin. „Ich muss jetzt ganz schnell zum Schließfach und dann mit Pfarrer Gregor sprechen." Umut dachte kurz nach. „Ruf ihn doch direkt an. Warte, ich habe hier die Nummer vom Augustakrankenhaus – schreib auf.“

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Yan betrachtete fasziniert die zutrauliche Taube.  „Irgendwas stimmt mit dem Vieh nicht“, sagte er und näherte sich der Engelsfigur.
Sila beachtete ihn nicht, denn sie war mit fliegenden Fingern damit beschäftigt, die Zahlen, die Umut diktierte, in ihr Handy zu tippen. Dann ließ sie den Arm sinken und blickte ihn nachdenklich an. „Es ist schon komisch. Wieso treffen wir dich heute ausgerechnet hier? Ich werde das Gefühl nicht los, dass du mehr …“ Weiter kam sie nicht, denn Yan rief plötzlich aufgeregt: „Das gibt’s doch gar nicht.“
Sila und Umut schwenkten die Köpfe synchron in seine Richtung. Yan hielt die Taube in beiden Händen, die Augen ungläubig aufgerissen. „Scheißt die Wand an, Leute. Wenn das hier ist, was ich glaube, dann ist das nix für Radio Bochum, sondern für die BLÖD-Zeitung und die Tagesschau.“

Beitrag 85

Sila staunte nicht schlecht, denn die Taube trug an ihrem Ring einen Anhänger, und zwar genau so einen kleinen Fußball wie Sila ihn von dem Fremden bekommen hatte – war das eine Botschaft, die ihnen bei der Lösung des Rätsels weiterhalf oder wurde jetzt alles noch verwirrter? Yan öffnete den Anhänger und zog einen Zettel mit drei Ziffern heraus – 700, genau wie auf dem Schlüssel zum Schließfach. „Nun aber los zum Hauptbahnhof“, rief Yan. „Und Umut, du kommst mit“, kommandierte Sila. „Du bist uns eine Erklärung schuldig.“ – „Ja, ja“, meinte dieser und schlurfte hinterher. Die Taube flog auf den Engel an der Grabstätte.
Völlig außer Atem kamen sie kurze Zeit später am Hauptbahnhof an. Sila lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie vor dem Fach mit der Nr. 700 standen. Der Schlüssel passte, Sila drehte ihn um, die Tür klappte auf und mit zittrigen Händen griff Sila hinein.

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