Beitrag 16
700 Jahre – welch Zeitspanne!
Vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Vom Dortmunder Vieh-Diebstahl und der Abreibung durch die Bochumer Jungs 1388, bis zur Uni-Stadt seit den 1970ern. Das Jahr 1848 des VfL Bochum – natürlich! Auch später bezogen die Nachbarn noch ab und zu Prügel, dann nur noch im Fußball.
Sila schmunzelte und schaute hinüber in die Ecke zum „heiligen" Bochum-Trabzonspor-UEFA-Cup-Schal. Klar, dass ihr Vater 1997 zum Hinspiel in Trabzon seinen VfL in die Heimat seiner Mutter mit begleitet hatte.
Was war Mama damals sauer darüber!
Es klingelte. Mist, der Tierschutz, den hatte sie ja völlig vergessen! Ob ihre damalige große Liebe Yan wohl dort noch arbeitete? Hatte sie am Telefon ganz versäumt, zu fragen.
Pfarrer Gregor legte behutsam die beiden Seiten vor sich ab, nahm einen Schluck aus der Bierpulle und wedelte dabei nur stumm mit der freien Hand, dass sie ruhig zur Tür gehen könne.
Die Taube gurrte leise auf dem Tisch.
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Sila öffnete die Haustür.
„Ist das Ihr Kadett da draußen?“
Der Mann, der vor ihr stand, war nicht Yan. Vielleicht auch besser so. Trotzdem kam er ihr bekannt vor. Glatze, getönte Sonnenbrille, schelmisches Lachen – verdammt, der Typ sah aus wie Mambo Kurt. Mitte der 1990er hatte sie ihn im legendären Planet Club auf der Kortumstraße erlebt, wo er Songs von AC/DC und den Sex Pistols auf der Heimorgel spielte.
„Ist das der neue Gruß? Tach erstmal“, sagte Sila.
„Tschuldigung, ich heiße Ralf.“
„Sind Sie gar nicht vom Tierschutz?“
„Doch. Aber der Kadett …“
„Was ist damit?“
„Das Nummernschild. BO-ND 7. Unfassbar. Und James Bond wurde ja in Bochum-Wattenscheid geboren, wie man weiß.“
„Nur Wattenscheid“, korrigierte Sila ihn mit einem Grinsen. „Die Stadt wurde erst 1975 nach Bochum eingemeindet.“
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Der Herr vom Tierschutz machte ein verdutztes Gesicht.
„Versteht nicht jeder“, entgegnete Sila, als sie merkte, dass Ralf nicht Mambo Kurt war, denn der hieß mit bürgerlichem Namen Rainer.
Sila war es wichtig, zwischen Bochum und Wattenscheid zu unterscheiden. Ihre Mutter ist in Wattenscheid aufgewachsen, und die beiden wohnten dort, als sich ihr Vater von ihnen getrennt hatte.
„Bin nicht gebürtig von hier. Erst nach der Wende rübergekommen“, rief der Mann Sila hinterher, als sie zurück ins Haus ging und die Taube vorsichtig in ihre Hände nahm. Ihr war nicht danach, jetzt eine fremde Lebensgeschichte zu hören. Ihre eigene und die ihres Vaters waren ihr gerade wichtiger. Sie gab die Taube in die Obhut des Tierretters, verabschiedete ihn freundlich und ließ die Tür ins Schloss fallen. Sila wandte sich wieder Pfarrer Gregor zu.
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Sie wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als ihr Smartphone klingelte. Genervt verdrehte sie die Augen. Langsam begann der Tag in Stress auszuarten.
„Sorry“, entschuldigte sie sich bei Pfarrer Gregor. „Ich muss da mal eben rangehen.“
Der Geistliche nickte verständnisvoll.
„Ray“, begrüßte Sila ihren derzeitigen Lebensgefährten, der sie wegen eines Jobs nicht hatte begleiten können.
„Hey Schatz. Bist du gut in Bochum angekommen?“
Er sprach den Namen stets Bokum aus, da ihm, wie allen Amerikanern, das ch Probleme machte. Seine Vorstellung bezüglich ihrer alten Heimat war klischeehaft – eine graue Industriewüste, bevölkert von Bergleuten. Die Minen von Moria. Dass Bochum heutzutage mit viel Natur und Kultur aufwartete, davon wollte er sich nicht überzeugen lassen. Wie es eben ist, wenn man die Stadt lediglich aus Grönemeyers Hymne kannte.
„Ja, alles gut. Du, kann ich dich nachher zurückrufen? Ich hab gerade ein bisschen viel um die Ohren.“
„Sicher. Bis später! Luv ya!“
„Ich dich auch.“
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Nach dem Telefonat mit Ray beschlich Sila ein schlechtes Gewissen. Schon lange wollte sie reinen Tisch machen, schob diesen Moment aber immer wieder auf. Abermals dachte sie an ihren Vater und seine Fähigkeit, in wenigen Worten sagen zu können, was er dachte.
„Sei klar und mach da kein Rumgeeiere, Sila. Sage immer direkt heraus was du denkst, auch wenn es vielleicht schmerzhaft ist. Du kommst aus dem Ruhrpott, hier reden wir Klartext, gewöhn dir das bloß nie ab.“
„Diese Baustelle schließe ich auch noch, doch eins nach dem anderen, erst will ich wissen, was es mit dem Haus und dem Buch auf sich hat“, dachte Sila und ging wieder zu Pfarrer Gregor, der geduldig am Tisch sitzend andächtig sein Pils betrachtete.
Und in diesem Moment reifte in Sila ein Entschluss, der alles verändern sollte und sie geradezu euphorisch werden ließ.
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Sila atmete tief durch und war gerade im Begriff, sich wieder Pfarrer Gregor zuzuwenden, als dieser ihr vorschlug, sich morgen zur gleichen Zeit wieder hier im Haus zu treffen. Er hatte vermutlich bemerkt, dass sie nicht mehr so richtig bei der Sache war. Als er gegangen war, fühlte sie sich plötzlich ein wenig unwohl in dem nun leeren, aber doch voller Erinnerungen steckenden Haus. Sie verdrängte ihre Gedanken, nahm kurzerhand das Buch und die beiden von Pfarrer Gregor zurückgelassenen Seiten, setzte sich ins Auto und fuhr mit einem Lächeln auf den Lippen los. Es gingen ihr Bilder aus ihrer früheren Kindheit durch den Kopf, und sie wusste, wohin sie fahren musste, dorthin wo sie im Sommer immer mit ihren Eltern bei einer Bananenmilch gesessen hatte. Hier konnte sie in Ruhe ihr weiteres Leben planen. Voller Vorfreude fuhr sie Richtung Stadtpark.
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Sila stellte den Kadett auf dem Trampelpfad am Stadtpark ab. Wie oft hatten ihre Mutter und ihr Vater früher an jener Stelle diskutiert, wo es lang ging: Trampelpfad oder "richtiger Weg"?
„Vor der Hacke isset dunkel“, hatte Kaya Harmstorff jedes Mal den alten Püttspruch bemüht und Silas Pioniergeist geweckt. Dann waren sie stramm den kleinen Hügel hinauf wie zwei Bergwanderer. Die einstige Milchkuranstalt mit ihrer dunklen Bretterfassade war ihre Almhütte.
Diesmal nahm Sila den Eingang an der Gudrunstraße. Sie fand direkt einen freien Strandkorb. Sila blickte auf die Minigolfanlage und dachte an ihre letzte Bananenmilch und Bernie. Sie war damals 16. Das Date endete unverhofft auf der anderen Seite des Stadtparks. Im St.-Josef-Hospital. Bernie bekam Bauchkrämpfe. Er war laktoseintolerant.
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Bernie war einer der Jungs, die nur Fußball im Kopf hatten. Sofort nach Schulschluss schwang er sich auf sein BMX-Rad und raste zum Waldschlößchen. Was idyllisch klang, war – ganz prosaisch – ein Aschenplatz.Wenn er nicht selber kickte und Schürfwunden sammelte, stand er in der Ostkurve des Ruhrstadions oder lauschte im Radio der Bundesligakonferenz. Danach das Wannenbad. Bernies Samstag endete vor dem Fernseher. Pünktlich. 18 Uhr. „Guten Abend allerseits.“ An dem Nachmittag hatte er frei. Seine Saison war beendet. Die der Bundesliga ebenso. Abends fand in Berlin das Pokalfinale statt. Mit seinem VfL Bochum. Sein Vater hatte vergeblich versucht, Karten zu bekommen. Während der VfL in Berlin scheinbar ein Tor schoss, guckte Bernie auf ein Ultraschallbild. „Glück auf“, schreckte eine männliche Stimme Sila auf.
Beitrag 24
„Hallo!“ – spontan, aus Gewohnheit, kam ihr diese Antwort über die Lippen. Die Stimme war aus dem Off gekommen, aus dem Off ihres Strandkorbes, schräg hinter ihr. Sie beugte sich vor und schaute um den Sonnen-, Regen-, Wind-, was immer für ein Schutz das sein mag, herum.
„Hallo?“, wiederholte sie, diesmal fragend, überrascht. Da stand ein Kerl, mein Gott, ihr Herz stand still, als sie ihn so stehen sah. Aber was? Wer? Ja, das war doch eigentlich nicht möglich. Flickjoppe, Tarnanzughose, schmutzig-braune Zehennägel, keine Schuhe und die Stirn eine einzige Falte, Huckleberry Finn in alt. Und das Gesicht, dieses Gesicht, dieses so vertraute Gesicht, fast das Gesicht von Papa! Ihre Gedanken wirbelten, kreisten, ahnten – ahnten sie wirklich?
„Komm, wir tun ma‘ bei die Pilleenten gucken gehen“, flüsterte das Gesicht. Jetzt wusste sie…
Beitrag 25
Cousin Umut. Nicht Silas Cousin, sondern der ihres Vaters. Als Kinder hatten Kaya und Umut jede freie Minute miteinander verbracht. Sie waren in Nachbarhäusern aufgewachsen und später auch gemeinsam unter Tage gefahren. Nachdem Sila jedoch mit ihrer Mutter weg gezogen war, hatte sie Umut nur noch ganz selten während der Besuche bei ihrem Vater getroffen. Er hatte die Trennung der Familie nicht gut heißen können. Schon seit vielen Jahren hatte Sila ihn nicht mehr gesehen.
Schweigend blickten sie beide aufs Wasser. Die Dämmerung setzte ein, und es begann, schattig zu werden. Sila zog ihre Jacke enger um sich. So viele Fragen kreisten durch ihren Kopf. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, durchfuhr sie schließlich die Stille. „Immer mit der Ruhe“, lächelte Umut sie an, „du weißt doch, wer fragt, der verdient auch eine Antwort.“