Fortsetzungsroman

Beitrag 36

Aber wie hing Yan mit ihrem verstorbenen Vater zusammen? Irgendetwas musste sie noch übersehen. Sila hatte das Gefühl, auf immer mehr Fragen zu stoßen, statt Antworten zu finden. Dabei wollte sie nichts mehr, als abzuschließen. Mit der Vergangenheit und den Gefühlen, die der Tod ihres Vaters in ihr ausgelöst hatten. Alles war so vertraut, und gleichzeitig kam sie nicht zur Ruhe.
Wie auch? Das Rätsel führte sie durch diese Stadt, von der sie zugeben musste, dass sie sich während der letzten Zeit in den USA nach ihr gesehnt hatte. Und von der sie insgeheim wusste, dass sie sie nicht so schnell wieder verlassen wollte, wie sie es Ray bei ihrer Abreise gesagt hatte.
Sie würde Yan aufsuchen müssen. Er würde ihr endlich Antworten geben können. Er musste einfach. Das würde es wert sein, alte Wunden aufzureißen. Sie stand auf und setzte ihren Weg raus aus dem Schlosspark entschlossen fort.

Beitrag 37

Zwölf Jahre, zehn Monate und zwei Tage seit ihre Liebe zerstört wurde. Doch war kein Tag vergangen, an dem ihr Herz nicht sehnsuchtsvoll an Yan zurückgedacht hatte.
Die Sonne verstaubte am Horizont, als der Kadett durch die pulsierenden Straßen Richtung Bermuda3Eck, dem angesagtesten Szeneviertel des Ruhrgebiets, chauffierte. Aus der Ferne hatte sie Yan regelmäßig heimlich online gestalkt, daher ahnte sie, wo er nun zu finden war.
Für irgendwelchen Parkticket-Schnickschnack blieb keine Zeit, sollten die Politessen, die hier quasi zum Inventar gehörten, doch über den Kadett herfallen. Schnell querte sie den Platz und öffnete vorsichtig die Tür der ältesten Kneipe der Stadt. Tatsächlich! Ihre unerfüllte Sehnsucht stand mit breitem Kreuz abgewandt hinter dem Tresen. „Yan!“, flüsterte sie leise.

Beitrag 38

Ein seltsames Gefühl überkam sie, eine Mischung aus Freude und Angst. Freude, ihn wiedergefunden zu haben und Angst, sie könnte vor Aufregung alles vermasseln. Das letzte Mal, dass sie sich so gefühlt hatte, war Jahre her, nach einer Lesung von Wolfgang Welt im Schauspielhaus mit anschließender Autogrammstunde. Als sie ihm ihr völlig zerlesenes Exemplar von „Der Tick“ reichte, hatten ihre Hände gezittert. Noch nie war sie ihrem Lieblingsschriftsteller aus Langendreer so nahe gekommen. „Für Sila Zielenski bitte“, hatte sie gehaucht. „Und vielleicht irgendwas Nettes“.
„Das kann ich aber nur auf Englisch“, hatte der Dichter geantwortet und war rasch mit dem Kuli über das Titelblatt gefahren. Erst auf dem Weg zur Garderobe las sie, was er geschrieben hatte: „Ignore Grönemeyer! WoW“.

Beitrag 39

Yan erkannte sie sofort. Er wirkte im ersten Moment überrascht, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen. Doch dann machte er ihr, zu Silas Erleichterung, lächelnd ein Zeichen sich zu setzen und deutete an, sofort bei ihr zu sein.
Das gab Sila die Zeit, sich zu sammeln. Auf einem Bierdeckel schrieb sie ein paar Worte auf: „Buch mit Rauten und Blumen. Heimfliegen, Kacheltisch, andere nachholen? Taube. 700. Familiengräber im Kortumpark. Yan!“
Während Sila wartete, fasste sie einen Entschluss. Sie würde Yan überreden, sie bei der Schnitzeljagd zu begleiten. Sila brauchte seine Hilfe, denn als Bochumer Junge kannte er die Stadt, der er immer die Treue gehalten hatte, wie kein Zweiter. „Und es ist ein guter Vorwand, um Zeit mit ihm zu verbringen“, dachte sie insgeheim. In diesem Moment setze Yan sich zu ihr. „Hallo Sila.“

Beitrag 40

Er stellte ungefragt ein gezapftes heimisches Pils auf ihren Bierdeckel, den sie gerade noch genutzt hatte, um ihre in alle Richtungen schwirrenden Gedanken festzuhalten.
Das Pils der Bochumer Brauerei verband sie eigenartigerweise als erstes mit ihrer Heimatstadt. Als sie einmal Ray einige Flaschen mitgebracht hatte, verzog dieser nach dem ersten Schluck nur das Gesicht. „Dat muss so herb sein, damit der Bergmann mit dem ganzen Kohlendreck inne Fresse überhaupt noch wat schmeckt“, hatte Uli immer gesagt.
Uli! Marie! Ihre Gedanken schwirrten nun um ihre alte Clique. Uli, Marie, Yan und sie hatten hier in der Keimzelle des Bermuda3Ecks viel Zeit mit dem im Ruhrgebiet beliebten Kneipenspiel „Schocken“ verbracht oder Livemusik gehört.
„Ey Sila! Alles paletti bei dir?“, riss Yan sie aus ihren Gedankengängen.

Beitrag 41

„Schocken“, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus.
„Watt? Hasse nen Schock?“, hakte Yan nach, während er leicht an ihrer Schulter rüttelte.
„Mir fällt da gerade unser Schocken ein“, erwiderte Sila, jetzt einigermaßen gefasst. „Der Uli, zum Schluss sammelte der doch nur noch Blattschüsse. Das ging ganz schön ins Geld.“
„Ja, richtig“, antwortete Yan, „und wir konnten für lau saufen. Prost!“
„Warum brach die Clique eigentlich auseinander?“, wollte Sila wissen.
„Unsere Väter wollten doch alle weg vom Pütt und heuerten bei Opel an. Der Vatta vonne Marie war doch schon beim Ausbuddeln; August 60, glaub´ ich; dabei.“
„Aber warum wurde der Uli plötzlich so komisch?“, bohrte Sila weiter nach.
„Da war doch was mit sein Vatta? Ich hab’s gleich! Unfall oder Knatsch auffe Maloche oder so! War dein Vatta nich dabei? Frag ihn doch mal!“

Beitrag 42

Sila seufzte und sagte leise: „ Wenn ich das doch nur könnte! Papa ist vor sechs Wochen gestorben und ich lebe seit Jahren in Amerika - seit wir uns getrennt haben.“ „Und? Hast du dort das große Glück gefunden?“ Er zerriss dabei seinen Bierdeckel in lauter Stücke. „Er ist auch aufgeregt“, stellte Sila beseelt fest. „ Naja Glück? Es ist mir ganz gut ergangen“, erwiderte sie lahm. Dabei beobachtete sie ihn. Dieses jungenhafte, fast schelmische Gesicht, die Grübchen, die sein Lächeln hervorzauberte, er hatte sich definitiv kaum verändert. Sie lehnte sich zurück. Ein warmes Gefühl stieg in ihr auf. „Und du? Hast du Familie? Kinder?“ - „Nein“, sagte er und schob die Schnipsel zu einem Haufen zusammen „leider war alles nach unserer Zeit... Schrott, ehrlich gesagt.“
Sie schwiegen. Sila schloss die Augen. Sollte Papa das gemeint haben? Heimfliegen - niederlassen - und zusammenbringen. Sie öffnete ihre Augen und sah direkt zu Yan, der sie liebevoll betrachtete. „Lass uns gemeinsam Marie und Uli suchen, dann wird bestimmt vieles klarer.“

Beitrag 43

„Uli und Marie brauchen wir nich‘ suchen. Die sind Bochum treu geblieben. Ich hab die auf’m  20-Jährigen geseh’n. War -  dat -  geil! 90 Minuten Hardcore – echte Gefühle.“ Yan bekam dieses Blitzen in den Augen.  Auch wenn der Film Teil der Unna-Trilogie war, war er doch Kult und unabdingbar mit der Geschichte Bochums und mit Silas Jugend verbunden. Sie konnte nicht anders:  „Yan, ich brauch dich. Ich bin da wat am planen dran. Mein Vater hat mir ein Rätsel hinterlassen und ich hab das Gefühl, die alte Clique ist Teil der Lösung.“ „Ein Rätsel? Mensch Sila, du bist doch sonst auch kein Hans-guck-in-die-Luft. Jetzt sei doch mal‘n bisken reehalistisch!“, konterte Yan verschmitzt. „Jetzt mal im Ernst, Yan, bist Du dabei? Du bist doch auch’n Kollege!“ Sila sah Yan auffordernd an.  Er nickte langsam: „Alles auf Horst!“ Damit hatte sie ihn.

Beitrag 44

„Kannst du die beiden bitte anrufen?“, fragte Sila.
Yan nahm nickend sein Handy vom Tisch und wählte.  „Uli“, sagte er erklärend, um kurz darauf „Ey, alte Säule!“ in den Hörer zu brüllen.
Sila musterte ihn verträumt und schreckte auf, als er mit der Hand vor ihren Augen wedelte und lächelnd fragte: „Hallo? Jemand zu Hause?“
„Ähm … ja klar“, antwortete sie verlegen und spürte, dass ihre Wangen verdächtig zu brennen begannen. Richtig rot wurde sie nie, dazu war ihr Teint zu dunkel. Yans Lächeln verstärkte sich.
„Ich weiß ja nicht, was du vom Telefonat mitbekommen hast, und vor allem weiß ich mal wieder nicht, auf welchem Planeten du gerade warst. Aber Uli und Marie sind auch im Bermudadreieck und kommen gleich hierher. Dass du hier bist, hab‘ ich nicht gesagt. Wird ’ne Überraschung.“
Leise sagte er: „Schön siehse aus, Kurze. Nur ’n bisschen dünn bisse geworden.“

Beitrag 45

„Dann lass uns doch schnell noch eine Pommes essen“, sagte Sila und die beiden machten sich sofort auf. In der Schlange wartend drehte sich die Stimmung zunächst: „Wann hört das endlich auf?“ Sila zerrte genervt an der Maske. Eigentlich sollte es schnell gehen, aber die Schlange war elend lang.
„Pommes Schranke“ – „Mit scharf?“ Die Kommunikation war ja sowieso pottmäßig knapp, aber jetzt, mit den Mundschützern ging das alles noch reduzierter. Sie nahm die Pommes und zog die Maske runter, um zu essen.
„Sila!“ – „Mensch Yan!“ Auf einmal war alles wieder da. „Darf ich?“ – „Klaro. Greif zu!“
Die beiden strahlten sich an und schlenderten gemeinsam Pommes in die Majo tunkend zurück zur Kneipe. Es war fast so wie damals. Die Sonne schien freundlich vom blauen Himmel. Die Taube landete elegant und trippelte dicht hinter ihnen her. Pommes waren ihre Leidenschaft. Gesunde Ernährung hin oder her.

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