Fortsetzungsroman

Beitrag 116

„…wir Zwillinge sind?“ Sie waren stehen geblieben. Sila schaute Peter fassungslos an. Er erwiderte ihren Blick, tiefes Verständnis meinte sie in seinen Augen erkennen zu können. Langsam senkte Sila ihren Blick. Das würde vieles erklären, diese Leere, die sie schon ihr Leben lang gespürt hatte. Dieses Gefühl, dass etwas Wesentliches nicht stimmte. Dass etwas fehlte.
Ungläubig schaute sie wieder auf. Peter hatte Tränen in den Augen. Ihm war es wohl ähnlich ergangen wie ihr. Warum nur hatte ihre Mutter Peter abgegeben? Und die ganze Zeit war er so nah, hier in Bochum. Viel würden sie sich zu erzählen haben. Aber vielleicht wusste er auch schon mehr über diese Sache.
Peter öffnete den Mund, gerade wollte er etwas sagen, da kam Sila ein ganz neuer Gedanke.

Beitrag 117

Statt mit ihrer Mutter zu telefonieren, wollte sie Peter ein gemeinsames Treffen mit ihr vorschlagen. „Peter, ich bin so froh, dass wir uns gefunden haben, und ob du nun mein Halb- oder mein Zwillingsbruder bist, ist für mich nicht von so großer Bedeutung mehr wie es das für dich sein muss. Lass uns doch Barbara gleich anrufen und ein Treffen mit ihr vereinbaren, dann kann sie uns in Ruhe ihre Version der Geschichte erzählen und wir verstehen sie sicher besser.“ Sila fand ihren Vorschlag ungemein vernünftig und war auch ungeduldig, endlich alles zu erfahren. Peter indes verhielt sich zunächst nur abwehrend, doch dann wollte er nicht der Hemmschuh seiner Schwester sein und stimmte zögernd zu. Er mochte sie zu gern, um ihr ihren Wunsch einfach abzuschlagen. Sila fackelte nicht lange, nahm ihr Handy in die Hand und begann, Barbaras Nummer erneut zu wählen. Es schellte.

Beitrag 118

„Hallo?“ – „Hallo, Mama, Sila hier. Wann können wir uns treffen? Wir müssen reden.“ Sie wollte nicht schon am Telefon sagen, worum es ging. Irgendwie fürchtete sie, ihre Mutter würde dann einen Rückzieher machen. Es musste ja einen Grund geben, warum sie bisher nie von ihrem Bruder gesprochen hatte.
„Oh, das klingt ja ernst.“ Die Mutter lachte. „Magst du morgen um 3 zum Kaffee kommen? Ich kann deinen Lieblingskuchen backen.“
Sila verdrehte die Augen. Mütter! „3 ist super, Mama. Aber mach dir keine Mühe“, sagte sie und wusste jetzt schon, dass Mama auf jeden Fall backen würde. Keiner machte den Schokokuchen so wie sie!
„Ist doch keine Mühe!“, sagte die Mutter. „Freue mich auf dich.“
„Ja, bis morgen.“
„Jetzt haben wir Zeit, dass du mir deine Geschichte erzählen kannst“, wandte sie sich an Peter. „Seit wann weißt du von mir?“ Sie war sich sicher, ihr Vater hatte diese Schnitzeljagd auf den Weg gebracht, damit sie und Peter sich finden. Warum hatte er es nur so kompliziert gemacht?

Beitrag 119

Doch Peter wich ihrem fragenden Blick aus und starrte still aus dem Fenster. Er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln.
„Ich, ich habe …“, brach er ab. 
Sila, die gerade noch ihren Zwillingsbruder vor sich gesehen hatte, der genauer aus seinem Leben erzählen sollte, sah plötzlich eine andere Person vor sich. In einem anderen Stadtteil aufgewachsen, in einer anderen Familie groß geworden, in einer anderen Umgebung gelebt. Die erfolgreiche Geschäftsfrau aus den USA traf auf einen Studenten im 6. Semester, der in einem Paketzentrum jobbte. Aus dem Unbekannten war ein Fremder geworden.
War es wirklich eine gute Idee gewesen, die Vergangenheit zu erforschen? Besaß nicht jede Familie ihre Geheimnisse?

Beitrag 120

„Das ist übrigens aus dem Buch gefallen“, begann Peter unvermittelt wieder zu sprechen und reichte Sila ein Foto. Darauf posierten vier junge Männer betont lässig vor dem Kriegerdenkmal, das früher im Stadtpark gestanden hatte. Die Kleidung ließ Sila an alte Schwarzweißfilme denken, und in einer der Gestalten erkannte sie ihren Vater, auch wenn er ganz anders wirkte als der Mann, an den sie sich erinnerte. Nachdenklich betrachtete Sila seine weichen Gesichtszüge. Wie alt er wohl damals gewesen war?
Das Denkmal hingegen sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Die beiden riesigen Soldatenfiguren mit ihren grimmigen Gesichtern hatten ihr als Kind immer etwas Angst eingejagt. Irgendwann in den 80er Jahren war dieses Relikt aus finsteren Tagen dann im Stadtarchiv verschwunden.
Langsam drehte Sila das Foto um.

Beitrag 121

Als Sila das Foto umdrehte, war die Notiz „Experiment Nr. 1“ zu sehen. Verwundert schaute sie wieder auf das Bild mit den vier Männern im Stadtpark und entdeckte eine Taube in den Händen ihres Vaters. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Sila.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Peter, „aber ich wollte es dir unbedingt zeigen, denn in letzter Zeit hat mich so eine komische Taube die ganze Zeit verfolgt.“
Sila nickte. „Ich habe sie auch immer wieder gesehen.“ Die Geschwister studierten das Bild nochmals genau, da platze es aus Sila heraus: „Ich will jetzt langsam einen Schlussstrich unter diese Geschichte ziehen. Wir können meine Mutter nachher nach der Taube fragen und auch Ralf vom Tierschutz anrufen. Lass uns vorher aber auf jeden Fall zusammen in Papas Buch gucken. Vielleicht entdecken wir dort noch ein paar mehr Antworten auf die Fragen, die uns in den letzten Tagen und Wochen so geplagt haben.“
Sila schlug das Buch auf.

Beitrag 122

Das Buch begann mit einem Erlass aus dem 9. Jahrhundert, in dem Regelungen für Märkte im Reich von Karl dem Großen beschrieben werden: Größen, Gewichte, erlaubte Waren, Steuern. „Okay, das hilft uns nicht wirklich weiter“, meinte Peter und stockte dann plötzlich: „Stop! Da steht etwas von Cofbuokheim – ich bin mir ziemlich sicher, dass Bochum früher so hieß. Dann ist die Stadt ja noch älter als 700 Jahre. Das hier ist ein historisches Dokument, wow. Wie Kaya da wohl dran gekommen ist?“
Silas Interesse daran hielt sich in Grenzen, sie wollte lieber mehr von ihrer Familiengeschichte erfahren. „Aha, Kaya war immer schon fasziniert von Bochum, aber das ist wohl eher was für das Stadtarchiv“, sagte sie, „Ich will jetzt wissen, was mit dir und mir, mit Mama und Papa ist. Lass uns weiterblättern bis zur Gegenwart.“
Schnell stießen die beiden auf den nächsten Hinweis, der auch Licht ins Dunkle der Familiengeschichte brachte.

Beitrag 123

Sila lächelte zufrieden, als sie in dem Buch den Hinweis fand. „Peter, ich glaube, ich habe hier was“, frohlockte sie triumphierend, während ihr Bruder die handschriftlichen, zusätzlichen Notizen von Kaya studierte. Als Peter sich zu Sila drehte, klingelte es.
„Erwartest du Besuch?“, fragte Peter.
„Yan und Umut wollten vorbeikommen“, entgegnete Sila: „Kannst du kurz zur Tür gehen? Ich muss mir diese Stelle nochmal durchlesen.“
Peter ging zur Tür, aber dahinter stand weder Yan noch Umut, sondern Harry BOgart. „Habe ich mir doch gedacht, dass du hier bist“, meinte der Detektiv: „Ich kriege noch Kohle von dir.“
„Die bekommst du Harry, doch das ist der denkbar schlechteste Moment. Ich wollte Sila finden, das habe ich geschafft. Bitte mach mir das jetzt nicht kaputt“, flehte Peter.
Harry hatte Einsehen und machte kehrt. Als seine Silhouette im Dunkeln verschwand, tauchten zwei andere Gestalten auf: Yan und Umut.

Beitrag 124

Sie hatten Sila auf ein Feierabendbier in ihrer Stammkneipe abholen wollen. Sila hatte abgelehnt. Langsam überfiel sie die Müdigkeit, nicht nur des heutigen Tages.
Peter musste auch gehen, so gern er weiter in dem Buch gesucht hätte. Den Hinweis sollte sie ihm am nächsten Tag erzählen.
Sie setze sich vor das Haus an den vom Wetter verwitterten Holztisch. Früher hatte sie es geliebt, hier zu sitzen, wenn die Sonne im Westen verstaubte und alles in goldgelbes Licht tauchte.
Die letzten Wochen rauschten an ihr vorbei.
Sie holte Stift und Papier und wollte sich an ihre Geschichte setzen. Es war so viel passiert.
Das Buch, die verschiedenen Orte, all die Menschen die sie neu getroffen, aber auch wiedergesehen hatte. Wo sollte sie nur beginnen?
Sie wollte gerade den Stift für den ersten Versuch ansetzen, als ihr Telefon klingelte.

Beitrag 125

Peter war dran, eine Gemeinsamkeit der Geschwister: Neugier.
„Der Hinweis...,“
„Ich wusste du rufst an“, sagte Sila: „Los, zum Terminal!“
„Zum Bahnhof?“
Nach einer Stunde standen sie vor einem rostigen Kartenhaus aus rechteckigen Stahlplatten.
„Das ist Schrott!“
„Kunst“, belehrte Sila.
„Abhängig vom Standpunkt des Betrachters“, zögerte Peter.
„Ja!“, erklärte Sila: „Es reicht kein erster Blick, man muss einen zweiten und dritten wagen, um zu erkennen, dass sich die Skulptur aus jeder Perspektive anders präsentiert. Genau wie sich Bochum und das Leben meines Vaters durch das Buch in immer neuen Facetten zeigt.“
Sila zog ihren Bruder mitten in den Cortenstahl.
„Man kann rein?“, staunte Peter.
„Sieh hoch.“
Kaum zu glauben, der Himmel zeigte sich als perfektes Quadrat.
„Die Skulptur taucht im Buch unter 1979 auf.“

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