Fortsetzungsroman

Beitrag 46

Auch wenn Amerika das Land der unbegrenzten Fast-Food-Ketten war, schmeckten die Pommes in der Heimat immer noch am besten. Irgendetwas musste in der Bochumer Luft liegen. Oder im ein paar Tage zu alten Frittenfett.
Sila und Yan setzten sich auf die von Wind und Wetter mitgenommene Bank vor der Kneipe. Mit den Mündern voll frittierter Kartoffeln hatten die beiden den Weg zurück wortlos verbracht, was Sila jedoch nicht unangenehm fand. Es war eher ein vertrautes Schweigen – und das obwohl ihr letztes Treffen vor vielen Jahren kalt und fremd geendet hatte.
Wie aus dem Nichts erschien vor ihnen ein Paar. Einige Kilo und eine Handvoll Falten mehr, aber das waren unverkennbar Uli und Marie.

Beitrag 47

Da sind wir“, sagte Uli statt einer Begrüßung, bevor sein Blick fragend von Yan zu Sila wanderte.
Marie war es, die Sila sofort wiedererkannte. „Sila? Mensch, das gibt’s doch gar nicht!“ Sie lachte, und Sila konnte sehen, dass ihre alte Freundin sie am liebsten gleich in den Arm genommen hätte.
„Wieder im Lande?“, fragte Uli, konzentrierte sich dabei aber schon nicht mehr auf Sila, sondern auf Yans Pommesschale, aus der er eine der restlichen Fritten angelte.
Sofort fühlte sich Sila an die letzten Wochen erinnert, ehe ihre Clique sich aufgelöst hatte. Schon damals war Uli abweisend gewesen, und anscheinend war auch Yan der Grund dafür bis heute unklar.
Musste sie nun also zwei Rätsel lösen? Ulis Ablehnung und das ihres Vaters?

Beitrag 48

„Irgendwie verschränken sich hier jetzt zwei Geschichten“, dachte Sila irritiert. Und da war ja auch noch ihre Beziehung mit Ray. Sie hatte doch zurückrufen wollen! Offenbar verdrängt!
Sila rief sich zur Ordnung: Klar bleiben, sich bewusst machen, was Sache war. Warum war sie hier in Bochum? Der Tod ihres Vaters, das Erbe, die vielen Hinweise hatten sie weitergeführt bis hierhin zu Yan, Uli und Marie.
Sila fielen ihre Spielrunden am Kacheltisch im alten Haus ein. Das war der Link!
„Kommt mit, ich muss euch was zeigen. Hat mit uns zu tun.“
Uli flippte aus, als sie am Kadett waren. „Boah, Sila, geil! Der ist Kult!“
Er war jetzt ganz im Hier und Jetzt und überhaupt nicht mehr abwesend. Fast zärtlich strich er über den zartgrünen Lack: „Opel Kadett A, 1963 gebaut, 40 PS, 120 km/h Spitze. Das erste Auto aus Bochum! Für den kriegste heute locker 7000 Euro!“
Sie quetschten sich in das Auto und fuhren los.

Beitrag 49

„Ach“, Sila zeigte hinaus, „da ist ja das Tierheim, wo Ralf die Taube hingebracht hat.“
„Welche Taube?“, fragte Marie, und Uli: „Welcher Ralf?“ Sila erzählte von der Taube, die ihr zugeflogen war.
Marie lachte: „Die ist doch bestimmt von diesem Dr. Konrath, weißt du nicht mehr? Der machte in der Ruhr-Uni, Gebäude ND, so Forschungen, ob Brieftauben voneinander Heimwege lernen können oder so, und bei einem ‚Tag des Offenen Labors‘, wo wir mit deinem Vater waren, hat er dir seinen Taubenschlag gezeigt. Mit schönem Blick auf den Kalwes.“
„Ja, der!“, rief Sila. „Der kam doch mal zu uns in den Garten, weil sich eine junge Taube verflogen hatte und er ihren Peilsender suchte, den hatte sie abgeworfen.“
„Lange her. Aber vielleicht gibt es den Dr. Konrath noch und es ist die gleiche Taube, die wieder in unseren alten Garten kam?“, fragte Marie.
Sila hatte anderes im Sinn: „So, jetzt sind wir gleich da, wo ich mit euch hinwollte.“

Beitrag 50

„Wir fahren zu Aisha, die jüngste Schwester von Vaters Mutter“, sagte Sila und steuerte den Kadett in Richtung Weitmar-Mark. Sie war schon lange nicht mehr bei ihrer Großtante. „Sollte ich sie vorher anrufen?“, dachte sie und hörte ihren Vater rufen: „Mädken, tuse dich gets wida selbs überzeugen oda wat soll dat?“ Vater hatte manchmal den Schalk im Nacken und Mutter meinte nur: „He Vatta, wat tuse dat Kind wida an, willse die nich deutsch reden tun“ – und dann lachten sich alle schlapp. „So war dat“, dachte Sila und bog in den Weg am Weitmarer Holz ein, an deren Ende Aishas Häuschen stand.
Ihr Herz klopfte heftig, als sie einparkte. Sie kramte entschlossen die von ihrem Vater beschriebene, ins Buch eingeklebte Doppelseite aus ihrer Tasche und schaute sich den Beginn an. „Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Wer es dennoch bricht, dem glaub’ in Zukunft nicht!“

Beitrag 51

Sie stiegen alle aus dem Kadett aus. Sila ging alleine voraus zum Hauseingang, die anderen blieben an der Straße stehen. Sie klingelte an der Tür und wartete, doch niemand öffnete. Auch nach einem weiteren Klingeln tat sich die Tür nicht auf. Sila wollte schon wieder gehen, da kam in diesem Moment Aisha um die Ecke gebogen, schwer beladen mit Taschen vom Einkaufen. Als sie Sila erblickte, blieb sie stehen und setzte die Taschen ab. Ihr Gesicht erhellte sich: „Ach Kindchen, wir haben uns ja ewig nicht gesehen“, rief sie voller Freude. Es folgte eine herzliche Begrüßung. Sila stellte ihre Freunde vor, erzählte, was passiert war und zeigte Aisha schließlich die zwei handgeschriebenen Seiten. Diese warf nur einen kurzen Blick darauf und nickte: „Ah, ich weiß Bescheid. Na, dann kommt mal alle mit rein, ich mach erst mal Kaffee und ein paar Schnittchen.“

Beitrag 52

Da saßen sie nun um den Kacheltisch bei Aisha. Sie plauderten über alte Zeiten, als sie Radtouren im Bochumer Norden, meist im Gysenberg oder im Hiltroper Park, wo Maries Familie in der Nähe wohnte, unternommen hatten. Nur Uli schien nicht ganz bei der Sache und sich unwohl in seiner Haut zu fühlen. Sila saß ihm gegenüber und schaute ihn nur an. Uli schlug die Augen nieder, als würde er sich für etwas schämen.
„Tja, der Kaya, dat war ein Spaßvogel und Geheimniskrämer“, schmunzelte Aisha plötzlich. Sie ging zum Küchenschrank und kam mit einem Umschlag wieder.
Sila öffnete den Umschlag und hervor kam ein romantisches Foto von einem Feld im Sonnenuntergang, mit Yan und Sila.
„Ich weiß wo dat is! Das Feld hinterm Sportplatz am Hillerberg, Richtung Gysenberg. Auf der Rückseite steht…“
„Es tut mir so leid“, flüsterte Uli auf einmal.

Beitrag 53

Alle Augen richteten sich auf ihn. Sila spürte ihr Blut rasen. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, er solle weiterreden. Uli wiederholte: „Es tut mir so leid für dich, Sila, aber glaubst du wirklich, dieses Rätsel stammt von deinem Vater?“ Silas Puls beschleunigte sich weiter. Marie warf Uli einen bösen Blick zu, sagte aber nichts. Nach einer kurzen Stille redete Uli weiter. „Welcher Vater würde seiner trauernden Tochter ein Rätsel hinterlassen?“ Yan, der eben noch kritisch geschaut hatte, nickte leicht. „Da ist was Wahres dran“, gab er widerwillig zu. „Vielleicht spielt hier jemand ein böses Spiel mit dir“, kommentierte Marie. Aisha lächelte nun nicht mehr. Sie atmete nur schwer.

Beitrag 54

Plötzlich platzte es aus Uli heraus: „Es ist kein böses Spiel. Du sollst auch kein Rätsel lösen, sondern sein Buch weiterschreiben Das war sein letzter Wille. Den hat er Pfarrer Manfred und mir anvertraut. ‚Sie soll die leeren Seiten mit ihrer Geschichte füllen‘, hat er uns gesagt. ‚Vielleicht ist es ja auch deine Geschichte.‘ Er allein wusste, wie sehr ich in dich verliebt war. Dein Vater hat bis zuletzt gehofft, dich noch einmal zu sehen, dich in den Arm zu nehmen. Er war sich sicher, dass du Heimweh hast und bald zurückkommen würdest. ‚Sie wird bald kommen und bleiben‘, hat er mehr als einmal gesagt. Als er merkte, dass es mit ihm zu Ende gehen würde, wollte er dir alles schreiben, aber er ist nicht über ein paar Sätze hinausgekommen. Ich habe dich nie vergessen können, Sila. Marie, verzeih mir.“

Beitrag 55

Sila wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Einerseits war sie voller Rührung und spürte auch ein wenig Traurigkeit, gemischt mit Sentimentalität, dass ihr Vater sie noch einmal sehen wollte und immer darauf gehofft hatte, dass das Heimweh seine Tochter zurückbringen würde. Auf der anderen Seite hatte ihr Vater doch genau gewusst, dass sie es mit dem Schreiben nicht so hatte.
Aisha merkte sofort, dass ihre Großnichte im Widerstreit ihrer Gefühle lebte. Sie ging auf die junge Frau zu, nahm sie in den Arm und meinte, nun in Bochumer Platt: „Kopf hoch Sila, du wirs dat Kind schon schaukeln. Hier hasse doch deine Freunde, die können dir helfen. Damit dat dann auch so fluppt, hol ich jetz den Aufgesetzten von meinen Nachbarn seine Johannisbeeren. Der hat nen tollen Schrebergarten in Günnigfeld. Wat meint ihr? Wenn man so´n Schnäppsken intus hat, sieht die Welt ganz anders aus.”
Überrascht blickte Sila auf Aisha. Die Tränen schossen ihr in die Augen.

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