Dieses „Irgendwo mittendrin“ zog nämlich Silas Aufmerksamkeit auf sich. Während sie den Wälzer daumenkinoartig durchblätterte, entdeckte sie inmitten der abertausenden Buchseiten zwei Seiten, die nicht zu den anderen passten. Sorgfältig wurden sie mit einem weltbekannten transparenten Klebeband in das Buch eingefügt. Sie waren nicht wie die anderen dünn und angegilbt, sondern pappig und zuckerwatteweiß
Zudem waren sie handschriftlich geschrieben. Die Rückseiten dieser Doppelseite waren jedoch leer, wie Sila umblätternd feststellte. Dabei entdeckte sie ein in den Buchfalz gestecktes Foto.
Es zeigte Sila als Siebenjährige, zusammen mit ihrem Vater und einer gemischten Tüte vonne Bude, wie die beiden sie sich damals immer geteilt hatten, wenn sie Vaters Heimatstadt besuchten. Sila ahnte, wer die Doppelseite geschrieben hatte.
Ihr Vater war überzeugt davon gewesen, dass jede Facette des Lebens eine Geschichte wert wäre und jede Geschichte aus einer Erinnerung ein Ereignis und aus einem Ereignis eine Erinnerung gewönne, so man dem nur aufgeschlossen gegenüber stünde. Es war einer dieser Vorträge, den er ihr von klein auf gehalten hatte. Die Dreifaltigkeit des Erzählens nannte Kaya Harmstorff das, hob mahnend den Zeigefinger und sagte: „Geschichten sind ein unschätzbares Gut, Deern, noch wertvoller als die Birnen vom alten Ribbeck.“ Fontanes Ballade hallte jetzt ebenso in ihren Gedanken nach wie der Spitzname, den er ihr gegeben hatte. Es gab so viele verstreute Erinnerungen an ihn, die seit seinem Tod wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins drangen.
Bilder von sonntäglichen Ausflügen an die Ruhr wurden in Sila wach, oder wie ihr Vater auf den Stufen zum Bismarckturm ihr aufgeschlagenes Knie verarztete. Bilder, die eine Lawine an weiteren Erinnerungen auslösten und ihr den Hals zuschnürten.
Heimat.
Da war es wieder, dieses kleine und doch so mächtige Wort, das ihr seit dem Tod ihres Vaters hartnäckig folgte.
Unsinn, dachte Sila.
Sie klappte das schwere Buch zu und hielt es fest an ihren Oberkörper gepresst, bis die Bilder in ihrem Kopf verblasst waren. Als sie ihren Griff endlich lockerte, hatten ihre Fingernägel feine Halbmonde in dem weichen Leder hinterlassen. Behutsam legte sie das Buch zurück auf seinen Platz.
Später. Sie war noch nicht soweit.
Mit entschlossenen Schritten trat sie aus dem Arbeitszimmer und ging mit eingezogenem Kopf die schmale Stiege zum Dachboden hinauf – in der Hoffnung, dort zu finden, was sie suchte.
Sie öffnete die schmale Luke zu dem Raum, in dem die meisten Erinnerungen an ihren Vater Platz fanden. Hier oben musste sie finden, auf was er all die Jahre mehr Acht gegeben hatte als auf seine eigene Familie. Sila holte tief Luft, bevor sie den ersten Schritt in den Raum setzte, der ihrem Vater so heilig gewesen war. Sie atmete den Staub ein wie in alten Tagen. Es fühlte sich plötzlich alles wieder so vertraut an. Wie oft hatten sie zu zweit hier oben gesessen. Heimat ist nur ein anderes Wort für dich. Billy Joels Worte hallten wieder in ihrem Kopf. Wie oft hatte ihr Vater ihr diesen Song auf der Gitarre vorgespielt. „Deern, für mich bist du mein Zuhause“, hatte er dann immer gesagt und ihre Hand dabei gehalten. Sila stiegen Tränen in die Augen. Sie hatte nie verstanden, warum er ihre Mutter und sie später dennoch verlassen hatte und wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie es auch nie wirklich versucht zu verstehen.
Im letzten Jahr vor dem Aufbruch hatte sie seine Gegenwart im Haus kaum ertragen. Alles an ihm regte sie auf: seine schlurfenden Schritte, sogar sein Atmen. Besonders aber seine zunehmend wortkarge Art. Er hatte ihr nichts mehr zu sagen. Und nicht auf die Art, die sie sich als Teenager gewünscht hätte.
Irgendwann hatten sie aufgehört, miteinander zu reden. Wenn er sprach, dann mit dem Fernseher. Meistens schimpfte er kopfschüttelnd leise vor sich hin.
Zumindest den ersten Schritt hatte Sila getan, indem sie hergekommen war.
Vor ihr unter dem blinden Fenster stand eine kleine Truhe. Vorsichtig hob sie den Deckel und betrachtete die alten Püttsachen, die er darin aufbewahrt hatte. Fotos von Unbekannten, Papiere, ein altes Grubentuch, ein bedeutungsschwangerer Kohlesplitter. Das abgewetzte Arschleder und darin eingewickelt eine Grubenlampe, sein größter Schatz. Nostalgie war etwas seltsam Erwärmendes.
„DONK!“
Sila wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ein Schatten hatte kurz das blinde Fenster hinter der Truhe verdunkelt. Auf der verdreckten Scheibe zeichneten sich Abdrücke eines Flügelpaars ab. Sila rannte nach unten, ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und bahnte sich einen Weg durch den verwilderten Garten. Auf dem Rasen unter dem Dachbodenfenster lag eine Taube.
Zu deren Glück war der Rasen seit Jahren nicht mehr gestutzt worden, so dass sie weich gefallen war. Sila näherte sich. Die Taube lag rücklings mit ausgestreckten Flügeln und geschlossenen Augen im Gras. Sila zögerte einen Moment, dann hob sie das Tier vorsichtig auf.
Sie hatte keine Ahnung von Tauben, aber diese hier sah besonders aus. Sie hatte keinen Ring, gehörte also niemandem, doch zwischen ihren gewöhnlich grauen Stadttaubenfedern hatte sie goldene Schwungfedern. Als Sila ihre schimmernden Flügel berührte, schlug die Taube ihre goldgeränderten Augen auf.
Erleichtert, dass der Vogel nur verletzt, aber nicht tot war, fragte Sila sich, was sie nun tun sollte. Sie erinnerte sich an die Arten, die sie kannte: Singdrossel, Blaumeise… nein, das brachte sie nicht weiter. Das hier war eindeutig eine Taube. Vielleicht eine besondere Sorte, die hier in Taubenschlägen auf den Dächern gehalten wurde? So war es doch gewesen, als ihr Vater jung war, meinte sie zu wissen, hier im Herzen des Ruhrgebietes.
Sila schaute die Taube an, die ruhig in ihrer Hand lag. „Das kriegen wir schon wieder hin!“ Seit wann sprach sie mit Tauben? Aber warum eigentlich nicht. „So, nun werden wir dich erst einmal sicher unterbringen, und dann rufen wir den Tierschutz an…“, plapperte sie weiter vor sich hin, während sie mit einer Hand versuchte, den Schlüssel in das Schloss der Tür zu schieben, in der anderen Hand immer noch den jetzt leise gurrenden Vogel.
Während Sila im Wohnzimmer auf die Ankunft des Tierschutzes wartete, hatte sie den gefiederten Gast auf den alten Kacheltisch platziert, dessen Ästhetik selbst für die damalige Zeit eine Zumutung war. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater einst die Hypothese aufgestellt hatte, dass die hiesigen Tauben deshalb so auffallend wohlgenährter als andere Stadttauben waren, weil die Uni in den 70ern heimlich eine neue Taubenart gezüchtet hatte, die dem Labor entfliehen konnte und daraufhin die Stadt okkupierte. Auf die Nachfrage, warum diese neue Art sich nicht auf die umliegenden Ortschaften ausbreitete – schließlich hätte sie ja unlängst die heimischen Tauben verdrängt – konnte oder wollte ihr Vater nie eine Antwort geben.
Sila sah sich die Taube an und musste an ihren Vater denken, der ihr entflohen war. Sie hasste und liebte ihn so sehr, dass etwas in ihr unaufhörlich schmerzte. Dieser Schmerz brannte auf ihrer Seele, wie eine glühende Kohle. Schwarze Tropfen ließen sich auf ihrem rundlichen Gesicht nieder. Sie konnte es nicht anders. Sie stand auf und nahm den Bilderrahmen von der Wand. Das dreieckige Stück Holz lag in ihren zittrigen Händen. Die blau-weißen Farben waren fast so verblasst, wie ihre Erinnerungen. So stand sie da. Die Sonne in ihrem Rücken zeichnete feine, zauberhafte Linien auf dem Papier, das von ehemaligen Baumwurzeln umrahmt war. In diesem Rahmen stand etwas, das die schwarze Kohle erloschen ließ:
Wo immer auch ein Duft aufsteigt,
sag ihm, er soll mich heimfliegen,
und auf Kacheltischen niederlassen.
Ein bitteres Lächeln kämpfte sich auf ihre Lippen. Ihre Finger krampften sich um das Holz. Heimfliegen. Ob er bei diesen Worten je an sie gedacht hatte? Sie schüttelte den Kopf. Ein dummer Gedanke, eine dumme Frage – für die es sowieso zu spät war. Sie wollte den Rahmen weglegen, am liebsten von sich werfen, doch sie stockte. An ihren Fingerspitzen spürte sie etwas: Ein Stück Papier war hinter dem Wurzelholz eingeklemmt. Behutsam zog sie es hervor. Ein Umschlag. Vergilbt und verblichen, wie alles in diesem Haus, doch die blaue Briefmarke darauf stach nur umso mehr hervor. 1000 Jahre Dorfkirche Bochum-Stiepel. Sonderausgabe, kein Poststempel, nicht einmal eine Adresse. Sie drehte den Umschlag. Beim Anblick der kleinen, gedrungenen Schrift auf der Vorderseite zog sich alles in ihr zusammen.
Für meine Deern.
Für meine Deern,
1. Hinweis: Sprich mit Pfarrer Manfred. Er hat die nächsten Seiten.
Hilf mir, dieses Buch weiterzuführen.
Papa
Im Zweifel, ob das ein Scherz oder wirklich die letzten Worte ihres Vaters an sie waren, ließ Sila die Karte sinken.
Seine letzten Worte an sie… wenn Sila ihnen nur irgendeine Bedeutung beimessen könnte. Aber sie war zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
Dann erst bemerkte sie die Schritte hinter sich. Beim Lesen musste sie das Quietschen der Haustür überhört haben. Panisch drehte sie sich um.
Ein Mann hatte das Wohnzimmer betreten. Er starrte die Taube auf dem Fliesentisch zwischen ihnen an. Sila rief: „Wer sind Sie denn?“
Der Mann blickte sie wortlos an. Seine Augen wanderten von der Taube zu Sila, zu dem Brief in ihrer Hand und wieder zurück zu Sila. Körperlich war er einschüchternd; groß, breite Schultern und mit einem forschenden Blick. Auch seine dunkle Kleidung trug nicht zu einem einladenden Erscheinungsbild bei. Dennoch empfand Sila keine Angst. Vielleicht lag es an seinen Augen, die freundlich wirkten. Oder an den Falten rund um die Augen, die von vielem Lachen zu kommen schienen.
„Wie ich sehe, interessierst du dich für meine Kirche“, sagte der Mann und deutete auf die Briefmarke.
Sila blickte ihn verständnislos an. Dann fiel ihr der Kollar an seinem Hals auf, der weiße Kragen eines Priesters.
„Sind Sie Pfarrer Manfred?“, fragte sie den Fremden.
„Nein. Pfarrer Manfred ist leider letzte Woche verstorben. Ich bin sein Nachfolger, Pfarrer Gregor.“
Sila bat den Pfarrer Platz zu nehmen und fragte ihn, ob er etwas zu trinken haben wollte. Dabei fiel ihr ein, dass sie, außer der Bügelflasche des heimischen Pils‘, das sie an der ersten Tanke innerhalb der Stadtgrenzen gekauft hatte, nichts weiter anzubieten hatte. Nun hoffte sie, dass er ihr Angebot ausschlagen würde.
Wenn Sie etwas anzubieten haben, würde ich gerne darauf zurückkommen“, hörte sie von Pfarrer Gregor, der sich in den vergilbten Ohrensessel niedergelassen hatte. Schlagartig versuchte Sila, die unangenehme Botschaft in wohlklingende Worte zu verpacken. „Ich habe nur ne Flasche Pils, das ist mir total unangenehm.“
„Das macht nix, unser Bier habe ich noch nie abgelehnt“, antwortete Pfarrer Gregor und grinste. Die beiden kamen über die Taube ins Gespräch, die ungebremst ans Fenster geflogen war. „Hoffentlich braucht sie jetzt nicht ein Himmelbett für Tauben“, entgegnete Pfarrer Gregor und in Silas Kopf summte plötzlich eine ihr allzu vertraute Melodie…