Fortsetzungsroman

Beitrag 106

„Komm, wir gehen ins Haus, Umut“, sagte Sila und verschwand mit ihrem Großcousin, während Ray und Yan missmutig zurückblieben.
Im Haus fackelte Sila ebenfalls nicht lange: „Sag mir jetzt alles, was du weißt. Und zwar ohne lange Umschweife.“
Umut wusste, dass er nun auspacken musste. „Dein Vater und ich haben dieses Geheimnis lange mit uns rumgetragen. Ich wurde auf dem Turm gesehen, als dieses Unglück geschehen ist. Aber ich war nicht dort oben, sondern Kaya. Du weißt, wir sehen uns zum Verwechseln ähnlich.“ Umut musste tief durchatmen.
„Was hat Papa da oben gemacht? Und wer ist das Opfer, dieser Horst W.?“, hakte Sila beunruhigt nach.
„Dein Vater hat ihn nicht berührt, es war Selbstmord, das schwöre ich. Es ist so, dass… Ich mache es jetzt kurz und schmerzhaft, Sila: Horst Werner ist der Vater von Peter, dem Mann vom Paketzentrum. Er und deine Mutter hatten… Also Peter ist dein Halbbruder.“

Beitrag 107

„Na klar“, rief Sila. „Jetzt gibt das einen Sinn! Papa hat es gewusst und sich deshalb von Mama getrennt! Warum hat Peter nicht bei uns gelebt? Hat Papa gewusst, dass er nicht von ihm ist?“ Umut zuckte mit den Schultern. „Das war früher nicht so einfach, ein Kuckucks-Kind galt als Schande und deine Mutter musste Peter weggeben. Sie hat damals viel geweint und ihn schließlich zu seinem leiblichen Vater gebracht. Und ob ihr es glaubt oder nicht: Horst Werners tolle Frau hat Peter angenommen und als ihren Sohn großgezogen. Jeden Tag hatte Horst jetzt seinen „Fehltritt“ vor Augen und fühlte sich immer schuldiger. Kaya hatte an dem Tag meine Schicht übernommen, weil ich mal wieder betrunken war und Horst ist hinter ihm her auf den Turm. Er hat nur geflüstert: „Es tut mir so leid!“ und ist gesprungen. Kaya hatte Peter alles erzählt. Ich glaub, er hat dir das Buch geklaut, um Teil deiner Geschichte zu werden.“

Beitrag 108

Das Buch. Natürlich. Sie musste es zurückbekommen. Musste endlich abschließen mit dieser verrückten Jagd durch Bochum.
„Wir müssen noch einmal zu Peter“, sagte sie.
Umut brummte zustimmend, doch Sila beachtete ihn kaum.
Sie wollte losgehen, doch ihre Beine schienen mit Blei gefüllt. Das Blut rauschte ihr in den Ohren und machte es ihr fast unmöglich, die Fragen zu sortieren, die sich in ihrem Kopf überschlugen.
Stimmte es, dass dieser Horst Werner sich selbst umgebracht hatte? Wenn ja, war Umut zu Unrecht verdächtigt worden. Warum hatte ihr Vater sich dann anscheinend so wenig um ihn gekümmert? Was wusste Peter über den Tod seines Vaters? Machte er Kaya vielleicht dafür verantwortlich?
Und wieso hatte ihre Mutter ihr nie von ihrem Halbbruder erzählt?
Umut stand auf.
„Geh schon mal vor“, sagte sie.
Sie musste Peter zur Rede stellen. Gleich. Davor musste sie mit ihrer Mutter sprechen.
Sie holte ihr Handy hervor und rief sie an.

Beitrag 109

Besetzt. Sila seufzte und schickte ihr eine Nachricht mit der Bitte, sie zurückzurufen.
Sie verließ das Haus und blieb stocksteif stehen. Dort, zwischen den Hecken, stand Peter. Er musste ihnen gefolgt sein.
Sie starrten sich wortlos an. Seine Miene war unergründlich. Schließlich zog er das Buch aus seiner Tasche hervor und hielt es ihr hin. Sila schluckte, er war also wirklich der Angreifer gewesen! Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Sie ging langsam auf ihren Halbbruder zu, unsicher und verwirrt.
Nun wurden auch die anderen auf ihn aufmerksam. Umut wollte etwas sagen, doch Peter kam ihm zuvor.
„Ich wollte dich nicht verletzen, aber ich brauchte dieses Buch. Unbedingt.“

Beitrag 110

Sila pfiff leise durch die Zähne. Das hat Vater ja raffiniert eingefädelt! Nach seinem Tod sollen sie und dieser Peter also das Familiengeheimnis lüften. Gut eigentlich, dass Mama nicht gleich am Telefon war! So kann sie sich zuerst selbst ein Bild von ihrem Halbbruder machen, der nicht einmal vor einem Überfall zurückschreckte, um seinen Teil des Rätsels zu lösen.
Äußerliche Ähnlichkeiten ließen sich auf Anhieb nicht feststellen. Er trat jetzt von einem Fuß auf den anderen, und Sila versuchte, seinen unruhig flackernden Blick einzufangen. „Sag mal, der Geistliche im Bergmannsheil, warst das etwa auch du?“, stieß sie schließlich hervor, das Wort „Geistliche“ mit Zeige- und Mittelfingern in Anführungsstriche setzend. „Wie kommst du darauf?“ – „Eine Ahnung, und außerdem: Warum hätte ein Pastor so blitzartig abhauen sollen?“

Beitrag 111

Barbara Zielenski betrachtete nachdenklich die Postkarte vom Kaufhaus Kortum.
Wie oft hatte sie mit Sila vor der Musikbox gestanden und war mit ihr nach oben in die Lebensmittelabteilung gefahren, ein Brühwürstchen essen. Zurück ins Erdgeschoss ging es über die geschwungene Holztreppe, mit einem Gefühl wie Königin und Prinzessin.
„Bringen Sie Ihre Bochumer Geschichte auf Papier. Im Workshop unterstützen wir Sie dabei“, hieß es im Programm des Figurentheaterkollegs. Hier saß sie nun, mit dem Stift in der Hand. Geschichten, das war immer Kayas Ding gewesen. Bücher in jeder Ecke bis unters Dach. Wo in all dem war ihre Geschichte? Sila. Eigentlich wollte sie längst in Bochum sein, sich um Kayas Haus kümmern. Warum sie sich nur nicht bei ihr meldete? In der Pause warf Barbara einen Blick auf ihr Handy. Zwei neue Nachrichten. Barbara Zielenski begann sofort zu wählen.
Im nächsten Moment schaute Sila auf ihr Handy, das zu klingeln begann.

Beitrag 112

Sila sah auf ihr Handy: ihre Mutter. Doch in diesem Moment war ihr alles zu viel. Alle Ideen und Vermutungen irritierten Sila zunehmend. Ja, sie musste ein stimmiges Motiv finden. Eine Marke setzen!  Ist die Auflösung tatsächlich die Erbschaft? Während sie ihre Gedanken zu strukturieren versuchte, ließ ihr eine neue Vision keine Ruhe mehr.
Wäre es zukünftig nicht klasse, wenn sich in der markanten Bergarbeiter- und Industriestadt Bochum noch mehr neue Impulse entwickeln würden? Solche, die eben nicht nur mit körperlich schwerer Arbeit zu tun haben. Sila überlegte, ob sie mit dem möglichen finanziellen Erbe einen sogenannten Bürger-Fonds einrichten sollte. Einen prägnanten Namen und auch eine thematische Ausrichtung bräuchte dieses Vorhaben noch. Die Sinnfrage ist dagegen geklärt: Lebensqualität!
Sila riss es aus ihren Gedanken, als sie sich wieder dem Handy widmete.

Beitrag 113

Noch vor wenigen Minuten, nach Umuts Offenbarung, dass sie einen Halbbruder hatte, wollte sie nichts sehnlicher, als mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Doch jetzt wanderte ihr Blick verloren zwischen Peter und ihrem Handy hin und her – jetzt, wo Peter vor ihr stand, war nicht der richtige Zeitpunkt, mit ihrer Mutter zu reden. Sila drückte den Anruf weg.
Sie hatte sich immer einen Bruder gewünscht, aber auf diese Art und Weise davon zu erfahren, überrumpelte sie. Wie alt mochte Peter sein? Sila konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter schwanger gewesen war. War sie selbst vielleicht noch ganz klein gewesen? Oder ist Peter der ältere?
Sila sah Peter eindringlich an und fragte ihn ohne Umschweife: „Was hast Du in dem Buch entdeckt? Und warum hast Du mich nicht einfach gefragt, ob Du das Buch haben kannst?“

Beitrag 114

Ein paar Tage waren inzwischen vergangen, seit Sila erfahren hatte, dass sie einen großen Bruder hat.
Nachdem Ray vorerst zurück in die Staaten geflogen war, hatte Sila sich in ihrem neuen Haus provisorisch eingerichtet. Dort am Küchentisch und an den Theken der Stadt fanden sie und Peter viel Zeit, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.
„Peter, im Ernst jetzt!" Sila saß neben ihrem Bruder an der Theke ihrer alten Stammkneipe und boxte ihm in die Seite. Die Stimmung war ausgelassen, doch in ihr keimte die Ungeduld. Sie hatte viel über Peters Kindheit und Jugend in Stahlhausen erfahren, doch substanzielles war kaum dabei gewesen.
„Was ist damals passiert? Auf Holland?" Peter erbleichte, dann sah er sie ernst an und erzählte: „Ok, Sila, pass auf …“

Beitrag 115

„Ich erzähle dir alles in Ruhe. Es ist noch hell draußen, lass uns eine Runde im Laerholz drehen, ja?“
Kaum dort angekommen, sprudelte es nur so aus ihm heraus. „Sila, ich habe keine Beweise, aber hast du je ein Bild von deiner schwangeren Mutter gesehen? Ich habe vor Kurzem eins bei den alten Unterlagen meines Vaters gefunden mit dem Vermerk, dass sie auf dem Bild im 6. Monat schwanger war. Auch wenn ich mein Medizinstudium an der RUB noch nicht beendet habe, bin ich davon überzeugt, dass sie bei so einem riesigen Bauch eigentlich nur mit Zwillingen schwanger gewesen sein konnte.“
Sila schaute ihn irritiert an. „Ich habe dir bis jetzt noch nicht mein richtiges Geburtsdatum verraten, Sila.“ Er konnte ihr kaum in die Augen zu schauen. „Zwar bin ich größer als Du, aber in Papas Tagebuch steht, dass 700 Sekunden vor meiner Geburt noch ein Wunder im Kreißsaal geschehen ist.“
Sila blieb abrupt stehen, kreidebleich. „Willst du etwa sagen, dass…“

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