Fortsetzungsroman

Beitrag 26

„Antwort?“, sinnierte sie. „Wo kommst du überhaupt her? Wieso wusstest du, dass ich hier bin? Was ist mit dir passiert, so wie du aussiehst?“, sprudelte es dann völlig unstrukturiert aus ihr heraus. Jetzt musste Umut lachen. So hatte er Sila gar nicht in Erinnerung. Na ja, sie war zu einer hübschen Frau herangewachsen, die er zuletzt als junges Mädchen gesehen hatte. Im Grunde genommen kannte er sie gar nicht mehr. Aber entdeckte er da nicht etwas Vertrautes? Erleichtert über diese Erkenntnis rutschte er näher an sie heran, umarmte sie heftig. Fern seiner alten Heimat hatte er nun etwas Familie wiedergefunden.
„Ich wusste gar nicht, dass du hier bist“, nahm Umut den Faden auf, „ich wollte zu deinem Vater. Wo ist Kaya eigentlich?“ Umut schaute zu Sila rüber und sah im Halbdunkel, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
„Was ist passiert?"

Beitrag 27

Sila blickte ihn erstaunt an. Immerhin war ihr Vater bereits seit sechs Wochen tot. Umut sah ihr ruhig ins Gesicht – zu ruhig, um Angst vor der naheliegenden Todesnachricht zu haben.
„Im Westpark…“. Sila stockte. Ihr kam Kayas Vorliebe für Rätsel in den Sinn. Spontan erinnerte sie sich an einen frühen Versuch ihres Vaters, sie mit der Geschichte ihrer Heimatstadt vertraut zu machen: „Wer hat kein Kaufhaus gebaut und liest jetzt in der U-Bahn-Station aus der Jobsiade vor?“
Jetzt verstand sie. Das Buch, Pfarrer Gregor, der Bilderrahmen; Umut, der zum richtigen Zeitpunkt an dem Ort auftauchte, an dem sie ihre Gedanken ordnen wollte – Kaya hatte ihr eine Schnitzeljagd zu einem Ziel, das ihr noch nicht klar war, hinterlassen!
„Wir treffen uns morgen an der Jahrhunderthalle“, sagte sie leise.
Umut wippte mit seinem unbeschuhten Fuß.

Beitrag 28

In der Nacht hatte Sila einen Traum. Die Trauerweide im Hause des Gartens ihres Vaters verwandelte sich in einen anatolischen Wunschbaum. In ihm schaukelten aufgehängt die Seiten des gehsteigplattenstarken Wälzers wie bunte Fahnen im Wind. Es waren 700, wie sie jetzt wusste. 700 Seiten in einem 700 Jahre alten Baum. Es roch nach Heimat, und doch wusste sie im Traum nicht genau, wo oder was das eigentlich war. Ihre anatolische Großmutter kam und murmelte in einer Sprache, die sie nicht verstand. Die Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf: „Wo immer auch ein Duft aufsteigt / sag ihm, er soll mich heimfliegen, / und auf Kacheltischen niederlassen.“ Ich muss jetzt Umut an der Jahrhunderthalle treffen und dann zurück zum Buch, dachte sie im Erwachen. Die Antwort auf das Rätsel, das ich noch gar nicht verstehe, sie ist nur dort zu finden.

Beitrag 29

Sila zog ihre Jacke an und ging zur Tür. „Mist, den sollte ich nicht vergessen“, murmelte sie zu sich selbst und rannte nochmal ins Wohnzimmer des Fachwerkhauses, wo sie die letzte Nacht verbracht hatte. Sie hatte ihren Schlüssel auf der grünen Couch liegen gelassen, auf der sie auch geschlafen hatte. Sila musste sich so langsam beeilen, denn Umut war bestimmt schon auf dem Weg zu ihrer Verabredung. Ihr fiel ein, dass sie davor auch unbedingt noch ihr Auto tanken musste, da im Kadett nicht mehr viel Sprit übrig war und sie auch nicht wusste, was der Tag heute noch bringen würde. Aufgrund eines leeren Tanks keine Antworten auf all ihre offenen Fragen zu erhalten, konnte sie nicht in Kauf nehmen. Sie nahm den Schlüssel, ging aus dem Haus und stieg ins Auto. Billy Joel lieferte die Begleitmusik zu ihrer Fahrt Richtung Alleestraße.

Beitrag 30

Lange war sie nicht mehr im Westpark gewesen. Es war faszinierend, wie man es geschafft hatte, ein Stück Industrielandschaft in ein Naherholungsgebiet zu verwandeln. Umut stand am alten Wasserturm, der abends wunderbar beleuchtet wurde.
Sie ging auf ihn zu und fragte: „Was ist mit dir passiert? Was soll das alles?“ – „Oh, mach dir keine Sorgen um mich, ist nur ein vorübergehendes Problem. Kurz gesagt, manchmal sucht man sein Glück am falschen Ort“, antwortete er und hielt ihr einen Zettel hin auf dem stand: „Such die alten Toten, wo der Stein des Flusses die Kunst beherbergt.“
„Soll ich dir von deinem Vater geben. Hat was mit Heimatliebe zu tun“, meinte er. Fragend sah Sila hoch, im selben Augenblick kam ihr die Erinnerung, wie sie im Schlosspark direkt bei den alten Grabsteinen stand und auf die Mauern der Ruine aus Ruhrsandstein sah, die nun ein modernes Museum beherbergte.

Beitrag 31

An wohl kaum einem anderen Ort ist die Vergangenheit mit der modernen Gegenwart so verschmolzen wie im altehrwürdigen Schlosspark. Oft waren sie sonntags hier spazieren gegangen. In ihrer Erinnerung hörte sie die Stimme ihres Vaters. Sie lauschte Geschichten von tapferen Rittern und adligen Damen, die hier im 13. Jahrhundert Zuhause waren. Vor rund 700 Jahren.
Schrilles Hundegebell riss Sila aus ihren Erinnerungen. Erschrocken blickte sie sich um. Umut war verschwunden, und schlagartig wusste sie, was sie zu tun hatte.
Sila sprintete zu ihrem Auto, kurze Zeit später rannte sie über die weitläufigen Wege des Schlossparks, bis sie die verwitterten Grabplatten im Schatten der Kapellenruine erreichte. Atemlos blieb sie stehen und fuhr mit einem spitzen Schrei herum, als sie hinter sich eine Bewegung wahrnahm. „Pfarrer Gregor!”, rief sie gleichermaßen erschrocken wie überrascht.

Beitrag 32

„Welch ein Zufall! Da kann ich mir den Weg zu dir ja sparen“, stellte der Pfarrer freundlich lächelnd fest. Sila hatte ganz vergessen, dass sie nach Rays gestrigem Anruf das Gespräch auf heute verschoben hatten.
„Wir können auch hier reden. Komm, wir setzen uns auf eine Bank am Teich in die Sonne“, schlug der Pfarrer gut gelaunt vor.
Kaum hatten sie Platz genommen, als Sila, plötzlich von den Gedanken an Ray überwältigt, in Tränen ausbrach.
„Entschuldigung, aber…“ – „…im Moment ist alles ein wenig zu viel, oder?“, beendete der Pfarrer ihren Satz.
„Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll“, platzte es aus Sila heraus. „Ray, mein Freund, wird niemals mit mir nach Bochum in dieses alte Haus ziehen.“
„Willst du das denn?“, fragte Pfarrer Gregor.
„Ist doch meine Heimat, oder?“, flüsterte Sila. „Außerdem will ich Vaters Rätsel lösen“, ergänzte sie trotzig. Sie wusste, sie musste jetzt endlich Klartext mit Ray reden.

Beitrag 33

„Nun, dein Vater und Pfarrer Manfred haben sich häufig getroffen und lange geredet“, setzte Pfarrer Gregor in Ruhe an. „Hierbei ging es wohl irgendwann auch um das, wonach du suchst. Du hast sicher die beiden Seiten gelesen, die ich dir von deinem Vater gegeben habe. Fahr' in den Kortumpark hinter dem Bahnhof, die alten Familiengräber dort werden dir Auskunft geben.“ Er schüttete sich einen Schluck Tee in den Deckel seiner Thermoskanne ein. „Dein Freund Ray und du… Was sagt dein Herz? Wie sehr freust du dich, ihn wiederzusehen?“
Sila fröstelte beim Gedanken, stand aber resolut auf. „Pfarrer Gregor, haben Sie tausend Dank.“ Sie winkte ihm im Gehen schüchtern aus dem Handgelenk zu und ging schnellen Schrittes aus dem Schlosspark – um hastig die zwei handgeschriebenen Seiten aus ihrer Handtasche zu kramen, die ihr ihr Vater hinterlassen hatte.

Beitrag 34

Vorsichtig nahm sie die beiden zerknitterten Zettel in die Hand und begann zu lesen:„Bist du heimgeflogen und hast dich an Kacheltischen niedergelassen, dann hol' die anderen nach.“ Das war der Spruch, der auf dem Bild ihres Vaters stand und den ihr ihre anatolische Großmutter in dem Traum am Vortag mitgegeben hatte, nur jetzt verändert, als wäre es eine Art Fortsetzung.
„Wie kam dieser Spruch auf die Zettel, war sie schon heimgeflogen und hatte sich niedergelassen und vor allem: Wer waren die anderen, die sie nachholen sollte? Und warum war der zweite Zettel leer?
Sila setzte sich auf eine Bank in der Nähe und dachte nach...

Beitrag 35

Alles in ihr war hin- und hergerissen. Heimgeflogen, heimgeflogen – ja, das war sie. Sie ist hier, tief im Westen, in ihrer Heimatstadt Bochum, bei ihren Wurzeln, ihrer Familie, ihren Freunden... Kacheltisch, es fällt ihr wie Schuppen von den Augen. Der Kacheltisch am Fenster zum Garten. Die Abende mit den „Anderen“, ihren Freunden, die sie immer wieder erdeten. Sie standen zusammen und verbrachten ihre freie Zeit miteinander. Marie, Uli und Yan. Yan, da war es wieder, dieses Gefühl. Alte Steine gucken, hatte er immer gesagt, wenn sie sich im Geologischen Garten trafen. Die Bäume, Blätter im Wind und Yan. Sie schmiedeten Pläne für ihr gemeinsames Leben, war es ein Hinweis?
Ist Yan das unbeschriebene Blatt?

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