Fortsetzungsroman

Beitrag 6

„DONK!“
Sila wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ein Schatten hatte kurz das blinde Fenster hinter der Truhe verdunkelt. Auf der verdreckten Scheibe zeichneten sich Abdrücke eines Flügelpaars ab. Sila rannte nach unten, ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und bahnte sich einen Weg durch den verwilderten Garten. Auf dem Rasen unter dem Dachbodenfenster lag eine Taube.
Zu deren Glück war der Rasen seit Jahren nicht mehr gestutzt worden, so dass sie weich gefallen war. Sila näherte sich. Die Taube lag rücklings mit ausgestreckten Flügeln und geschlossenen Augen im Gras. Sila zögerte einen Moment, dann hob sie das Tier vorsichtig auf.
Sie hatte keine Ahnung von Tauben, aber diese hier sah besonders aus. Sie hatte keinen Ring, gehörte also niemandem, doch zwischen ihren gewöhnlich grauen Stadttaubenfedern hatte sie goldene Schwungfedern. Als Sila ihre schimmernden Flügel berührte, schlug die Taube ihre goldgeränderten Augen auf.

Beitrag 7

Erleichtert, dass der Vogel nur verletzt, aber nicht tot war, fragte Sila sich, was sie nun tun sollte. Sie erinnerte sich an die Arten, die sie kannte: Singdrossel, Blaumeise… nein, das brachte sie nicht weiter. Das hier war eindeutig eine Taube. Vielleicht eine besondere Sorte, die hier in Taubenschlägen auf den Dächern gehalten wurde? So war es doch gewesen, als ihr Vater jung war, meinte sie zu wissen, hier im Herzen des Ruhrgebietes.
Sila schaute die Taube an, die ruhig in ihrer Hand lag. „Das kriegen wir schon wieder hin!“ Seit wann sprach sie mit Tauben? Aber warum eigentlich nicht. „So, nun werden wir dich erst einmal sicher unterbringen, und dann rufen wir den Tierschutz an…“, plapperte sie weiter vor sich hin, während sie mit einer Hand versuchte, den Schlüssel in das Schloss der Tür zu schieben, in der anderen Hand immer noch den jetzt leise gurrenden Vogel.

Beitrag 8

Während Sila im Wohnzimmer auf die Ankunft des Tierschutzes wartete, hatte sie den gefiederten Gast auf den alten Kacheltisch platziert, dessen Ästhetik selbst für die damalige Zeit eine Zumutung war. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater einst die Hypothese aufgestellt hatte, dass die hiesigen Tauben deshalb so auffallend wohlgenährter als andere Stadttauben waren, weil die Uni in den 70ern heimlich eine neue Taubenart gezüchtet hatte, die dem Labor entfliehen konnte und daraufhin die Stadt okkupierte. Auf die Nachfrage, warum diese neue Art sich nicht auf die umliegenden Ortschaften ausbreitete – schließlich hätte sie ja unlängst die heimischen Tauben verdrängt – konnte oder wollte ihr Vater nie eine Antwort geben.

Beitrag 9

Sila sah sich die Taube an und musste an ihren Vater denken, der ihr entflohen war. Sie hasste und liebte ihn so sehr, dass etwas in ihr unaufhörlich schmerzte. Dieser Schmerz brannte auf ihrer Seele, wie eine glühende Kohle. Schwarze Tropfen ließen sich auf ihrem rundlichen Gesicht nieder. Sie konnte es nicht anders. Sie stand auf und nahm den Bilderrahmen von der Wand. Das dreieckige Stück Holz lag in ihren zittrigen Händen. Die blau-weißen Farben waren fast so verblasst, wie ihre Erinnerungen. So stand sie da. Die Sonne in ihrem Rücken zeichnete feine, zauberhafte Linien auf dem Papier, das von ehemaligen Baumwurzeln umrahmt war. In diesem Rahmen stand etwas, das die schwarze Kohle erloschen ließ:

         Wo immer auch ein Duft aufsteigt,

         sag ihm, er soll mich heimfliegen,

         und auf Kacheltischen niederlassen.

Beitrag 10

Ein bitteres Lächeln kämpfte sich auf ihre Lippen. Ihre Finger krampften sich um das Holz. Heimfliegen. Ob er bei diesen Worten je an sie gedacht hatte? Sie schüttelte den Kopf. Ein dummer Gedanke, eine dumme Frage – für die es sowieso zu spät war. Sie wollte den Rahmen weglegen, am liebsten von sich werfen, doch sie stockte. An ihren Fingerspitzen spürte sie etwas: Ein Stück Papier war hinter dem Wurzelholz eingeklemmt. Behutsam zog sie es hervor. Ein Umschlag. Vergilbt und verblichen, wie alles in diesem Haus, doch die blaue Briefmarke darauf stach nur umso mehr hervor. 1000 Jahre Dorfkirche Bochum-Stiepel. Sonderausgabe, kein Poststempel, nicht einmal eine Adresse. Sie drehte den Umschlag. Beim Anblick der kleinen, gedrungenen Schrift auf der Vorderseite zog sich alles in ihr zusammen.
Für meine Deern.

Beitrag 11

Für meine Deern,
1. Hinweis: Sprich mit Pfarrer Manfred. Er hat die nächsten Seiten.
Hilf mir, dieses Buch weiterzuführen.
Papa

Im Zweifel, ob das ein Scherz oder wirklich die letzten Worte ihres Vaters an sie waren, ließ Sila die Karte sinken.
Seine letzten Worte an sie… wenn Sila ihnen nur irgendeine Bedeutung beimessen könnte. Aber sie war zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
Dann erst bemerkte sie die Schritte hinter sich. Beim Lesen musste sie das Quietschen der Haustür überhört haben. Panisch drehte sie sich um.
Ein Mann hatte das Wohnzimmer betreten. Er starrte die Taube auf dem Fliesentisch zwischen ihnen an. Sila rief: „Wer sind Sie denn?“

Beitrag 12

Der Mann blickte sie wortlos an. Seine Augen wanderten von der Taube zu Sila, zu dem Brief in ihrer Hand und wieder zurück zu Sila. Körperlich war er einschüchternd; groß, breite Schultern und mit einem forschenden Blick. Auch seine dunkle Kleidung trug nicht zu einem einladenden Erscheinungsbild bei. Dennoch empfand Sila keine Angst. Vielleicht lag es an seinen Augen, die freundlich wirkten. Oder an den Falten rund um die Augen, die von vielem Lachen zu kommen schienen.
„Wie ich sehe, interessierst du dich für meine Kirche“, sagte der Mann und deutete auf die Briefmarke.
Sila blickte ihn verständnislos an. Dann fiel ihr der Kollar an seinem Hals auf, der weiße Kragen eines Priesters.
„Sind Sie Pfarrer Manfred?“, fragte sie den Fremden.
„Nein. Pfarrer Manfred ist leider letzte Woche verstorben. Ich bin sein Nachfolger, Pfarrer Gregor.“

Beitrag 13

Sila bat den Pfarrer Platz zu nehmen und fragte ihn, ob er etwas zu trinken haben wollte. Dabei fiel ihr ein, dass sie, außer der Bügelflasche des heimischen Pils‘, das sie an der ersten Tanke innerhalb der Stadtgrenzen gekauft hatte, nichts weiter anzubieten hatte. Nun hoffte sie, dass er ihr Angebot ausschlagen würde.
„Wenn Sie etwas anzubieten haben, würde ich gerne darauf zurückkommen“, hörte sie von Pfarrer Gregor, der sich in den vergilbten Ohrensessel niedergelassen hatte. Schlagartig versuchte Sila, die unangenehme Botschaft in wohlklingende Worte zu verpacken. „Ich habe nur ne Flasche Pils, das ist mir total unangenehm.“
„Das macht nix, unser Bier habe ich noch nie abgelehnt“, antwortete Pfarrer Gregor und grinste. Die beiden kamen über die Taube ins Gespräch, die ungebremst ans Fenster geflogen war. „Hoffentlich braucht sie jetzt nicht ein Himmelbett für Tauben“, entgegnete Pfarrer Gregor und in Silas Kopf summte plötzlich eine ihr allzu vertraute Melodie…

Beitrag 14

Du bist das Himmelbett für Tauben…
Sila begann erneut zu Tagträumen. Wieder strömte dieses Gefühl von Heimat, von Verbundenheit durch Herz und Seele, ja sie konnte es in ihrem ganzen Körper spüren, es schmerzte fast. Nirgends hatte sie dieses Gefühl so stark empfunden. Sie erinnerte sich an ein Konzert im Ruhrstadion, das der bekannte Bochumer Barde dort gegeben hatte. Das ganze Stadion hatte mitgesungen – Bochum ich komm aus diiir, Bochum ich häng an diiir.
Sila träumte weiter vor sich hin. Bis sie ein verhaltenes Räuspern wieder ins Hier und Jetzt zurückholte. Upps, der Pfarrer war ja noch da. Sie war neugierig, was er zu erzählen hatte. Schließlich hatte ihr Vater ja ausdrücklich geschrieben: Sprich mit Pfarrer Manfred.
Was jedoch wusste Pfarrer Gregor? Worum ging es überhaupt? Sie setzte sich fragend auf das Sofa.

Beitrag 15

Sila zeigte Pfarrer Gregor die Botschaft ihres Vaters: „Ich weiß, Sie sind nicht Pfarrer Manfred, aber können Sie mir vielleicht trotzdem...“ Ihre Stimme wurde immer leiser. Pfarrer Gregor lächelte wissend und holte zwei Seiten hervor. Die Seiten sahen aus, wie die beiden besonderen Seiten oben im Buch. Auch sie waren mit einer schönen Handschrift beschriftet worden.
Sila erhaschte einen Blick auf die ersten Zeilen. „Geschichten sind ein unschätzbares Gut, Sila. Wenn all‘ die Häuser und Bäume hier mit Worten erzählen könnten, was sie erlebt haben – so würden wir keinen Moment verpassen wollen. Wir würden gespannt lauschen und verstehen, was wirklich wichtig ist.“ Auf Silas Arm bildete sich eine Gänsehaut, erkannte sie doch die Worte Ihres Vaters. Ehrfürchtig schaute Sila sich um: Dieses Haus war 700 Jahre alt...

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