Fortsetzungsroman

Beitrag 66

Dann wandten sich ihre Gedanken wieder dem zu, was soeben passiert war. Sie waren überfallen worden!
Konnte es Uli sein? Gestern wirkte er so reumütig, als wolle er etwas bekennen – und dann war er doch nur ausgewichen. Hatte er sie bloß von ihrer Suche abbringen wollen?
Sie teilte Yan ihre wüsten Gedanken mit, während sie den Tippelsberg hinabstiegen. Doch Yan verteidigte Uli: „Ich bin mir sicher, dass Uli nix mit dem Überfall zu tun hat. Er hatte eine schwere Phase – Gottseidank hatte er die Arbeit bei Opel und hat den Laufsport für sich entdeckt“, erklärte er. Sila war beeindruckt. „Man sieht es ihm gar nicht an“, grinste sie. „Der Uli ist ein Guter. Mit seiner Ortskenntnis könnte er uns sogar noch eine große Hilfe werden“, sagte Yan. Sila nickte: „Wohnt er immer noch in Langendreer? Dann müssen wir ihn besuchen und ihn zurück ins Boot holen. Mein Vater hat ihm vertraut, und er weiß doch noch einiges mehr, als er gestern zugegeben hat.“

Beitrag 67

Erst jetzt merkte Sila, dass sie blutete. „Yan?“, fragte sie irritiert. „Yan – was ist denn ...?“ Vor Ihren Augen wurde es schwarz, die Knie gaben nach.
„Mei... Gott, musstet... so ... zuschlagen...?“ Silas Aufwachphase war reichlich unsortiert. Wortfetzen, Schläuche, das Piepen der Apparate, eine dunkle Gestalt, Telefon, eine Tür fällt ins Schloss.
Mit jedem Pochen des Kopfschmerzes wurde sie wacher.  Die Tür flog auf. „Aber nur drei Minuten!“, sagte eine Intensivschwester resolut. „Jaja“, raunte der unrasierte Mann, und wandte sich umgehend dem Bett zu. „Guten Tag Frau Zielenski“, sagte er höflich. „Wo bin ich?“, fragte Sila leise. „Bergmannsheil, beste Adresse bei Verdacht auf Schädelhirndingens. Apropos Verdacht, haben Sie eine Ahnung?“
„Ich weiß nur eines: die Person, die gerade das Zimmer verlassen hat, hat damit zu tun...“ – „Der Mann mit dem – Beffchen???“ Harrys Stirnfalten wurden zu Furchen.

Beitrag 68

Augenblicklich schoss ihm das Blut in den Kopf. „Den schnapp ich mir.“ Noch ehe Sila etwas sagen konnte, hechtete Harry los. Er sprintete durch den Flur, bog um die Ecke und sah nur noch die sich schließende Aufzugtür. „Mist, dann eben die Treppen“, dachte er sich und stolperte diese mehr herunter als dass er lief. Unten war keiner zu sehen. Er entschloss, draußen weiter zu suchen, sein Ehrgeiz hatte ihn gepackt. Er rannte einfach weiter, doch kam er nicht weit, Kondition hatte er nicht mehr. Er stand vor der Knappschaft. Bergleute hatten hier vor mehr als 750 Jahren die Knappschaft als soziale Absicherung für ihre Familien gegründet. „Ich sollte mal wieder zum Onkel Doktor“, dachte Harry sich. „Wat ‘n Paselacke, ich kriech dich noch“, brüllte er laut und machte sich etwas bedröppelt auf den Rückweg. Sila saß nervös in ihrem Bett.

Beitrag 69

Der merkwürdige Typ mit klerikaler Halskrause war ihm entwischt. „Verdammt blass, die Kleine“, dachte Harry noch, kurz bevor er sich dazu entschloss, die Verfolgungsjagd zu starten. Zuerst wollte er zurück ins Krankenhaus, doch plötzlich stand sie schon da: Sila war Harry nachgelaufen. Der Detektiv nahm sie mit in Richtung Innenstadt. Er musste nachdenken, und das gelang ihm immer noch am Besten in der wohligen Umgebung seiner Stammkneipe. Als er die Tür der Traditionskneipe direkt am Anfang der Viktoriastraße öffnete, ahnte er bereits, dass er hier neben ein paar Pils und kleinen, flüssigen Beschleunigern griechischer Herkunft sicherlich auch noch an ein paar Informationen kommen könnte. Allerlei interessantes Volk war um den massiven Tresen versammelt.

Beitrag 70

„… du und dein VfL…“ grölten die Gäste. „Für einen Sonntagnachmittag ziemlich voll“, stellte Sila fest. „Der VfL ist wieder erstklassig“, jubelte Harry. „Alles wie damals“, dachte Sila und erinnerte sich an die 90er Jahre.
Zum Nachdenken war das für Sila wohl nicht der richtige Ort. Aber die Ereignisse der letzten Tage warfen so viele Fragen auf. Wer hatte ihr Harrys Visitenkarte hinter den Scheibenwischer geklemmt? Das konnte nur Marie gewesen sein, die es bei Aisha so eilig hatte, das Weite zu suchen, nachdem Ulis Entschuldigung in einem unglaubwürdigen Liebesgeständnis gipfelte. Machte Harry mit ihnen gemeinsame Sache? Und Yan? Wer wusste von ihrem Treffen am Tippelsberg? Wem konnte sie noch trauen? Während Harry sich zum Tresen durchkämpfte, stieg Sila draußen ins Taxi. „Nach Stiepel bitte, zur Kirche.“

                       

Beitrag 71

Auf dem Weg zur ältesten Dorfkirche Bochums hatte Sila etwas Zeit über die letzten Ereignisse nachzugrübeln.
Was hat es mit dem merkwürdigen Typen mit Beffchen auf sich, der sich zu ihr ins Krankenhaus schlich? Ist er vielleicht ein Geistlicher aus Pfarrer Gregors Kirche oder war es die perfekte Tarnung, um unauffällig an Informationen zu kommen? Warum ist das Buch von Kaya für andere Personen so wichtig? Da muss mehr dahinterstecken als der Wunschgedanke eines liebenden Vaters, dass seine Tochter wieder zurück in den Ruhrpott kommt, um mit ihrer großen Liebe glücklich in seinem alten Haus zu wohnen, um so neue Geschichten zu schreiben. Das scheint zu trivial. Ob es einen geheimen Schatz gibt? Fragen über Fragen.
Sila sah die schöne Dorfkirche schon von Weitem. „Hoffentlich kann mir Pfarrer Gregor weiterhelfen.“

Beitrag 72

Sie ließ sich auf dem Parkplatz, der etwas verschwenderisch oberhalb der Dorfkirche lag, absetzen. Der kurze Weg die Gräfin-Imma-Straße hinab erlaubte den Blick auf Bochums prähistorische Kompetenz. Burg Blankenstein hoch über dem Wittener Ufer und diesseitig die Dorfkirche schienen für all das zu stehen, was hier möglich gewesen war, bevor die Ruhrauen zum Kohlengräberland wurden.
Neben dem Eingang der romanischen Kirche war ein Glaskasten befestigt – so eine Konstruktion, in der die Gemeinde ihre Nachrichten anschlägt. Irgendjemand hatte einen Sticker quer über die Glasfläche geklebt: „Sing Halleluja, Sister!“ war zu lesen. „Du mich auch“, dachte Sila.
Die Kirche wirkte verlassen – nur in der zweiten Reihe, vorne links, war ein Platz besetzt.

Beitrag 73

Sila blieb im Eingangsbereich der Kirche stehen und versuchte die Person trotz des schummrigen Lichts in der Kirche vom weitem zu identifizieren.
Sie war sich sicher, dass es sich nicht um Pfarrer Gregor handelte, der dort saß. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass sie diese Person kannte. Sehr gut sogar. ABER: Das konnte nicht sein. Hitzewallungen stiegen urplötzlich in ihr empor. Sila hatte das Gefühl, dass sich ihr Hals zuschnürte, sie konnte ganz deutlich jeden ihrer Herzschläge spüren, so als ob ihr Herz gleich aus ihrer Brust geschossen kommt.
Das, was sie sah, konnte nicht wahr sein. Sila war sich aber tausendprozentig sicher. Vorne in der zweiten Reihe sah sie ihren Vater sitzen.
Plötzlich hörte Sila ein Geräusch, das sie aufschrecken ließ. Das Gurren einer Taube, welche sich anscheinend ins Kircheninnere verirrt hatte.

Beitrag 74

Abgelenkt wanderte ihr Blick zur Taube und von dort zurück in die zweite Reihe. Die Sonne brach das Licht im Kirchenfenster, so dass die Bank nun sehr gut zu sehen war. Die zweite Reihe war komplett leer!
Das war doch nicht möglich! Hatten ihre Augen ihr da einen Streich gespielt?
Sie rannte aus der Kirche, Tränen liefen ihr über das Gesicht, kaum nahm sie ihre Umgebung wahr.
Sie stolperte über eine hochstehende Bodenplatte und landete geradewegs in den Armen eines Mannes, der sie rechtzeitig vor dem drohenden Sturz auffing.
„Ray, ich glaub es nicht! Was machst Du denn hier?“
„Ich musste dein Bokum einfach kennenlernen, Sila. Du hast mir so viel davon erzählt!“, sagte er mit seinem typisch amerikanischen Akzent.

Beitrag 75

„Bochum einfach kennen lernen“, das war leichter gesagt als getan. 700 Jahre! In 700 Jahren war viel passiert und jeder, den sie kannte, hatte sein eigenes Bochum. Wie sollte sie Ray ihre Heimat zeigen und vor allem, was? In den letzten Tagen war sie an so vielen Orten ihrer Bochumer Geschichte gewesen, sie hatte alte Freunde wieder getroffen und war sogar in ihrer Lieblingskneipe gewesen. Plötzlich dachte sie: „War das nicht vielmehr ihre Heimat? Die Erinnerungen, die sie mit Uli, Marie und Yan und ihrer gemeinsamen Zeit in Bochum teilten? Waren es nicht die Bilder, die die Orte und Menschen in ihrem Kopf auslösten?“ Langsam schlich sich ein weiterer Gedanke in ihr Bewusstsein und sie sprach es aus: „Ray, ich glaube, wir haben hier einiges zu tun. Lass dir zuerst mal das Haus meines Vaters zeigen. Bin gespannt, wie es dir gefällt.“

  • Ersteller:

    Dateiname: