Fortsetzungsroman

Beitrag 96

Während Yan, Ray und Umut Schnipsel an Schnipsel legten, konnte Sila sich kaum auf das Puzzle konzentrieren. Was hatte es mit diesem Buch auf sich, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte? Was war daran so wichtig, dass dieser Peter sie dafür überfiel?
Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Wer es dennoch bricht, dem glaub‘ in Zukunft nicht. So oft hatte Kaya diesen Satz in ihrer Kindheit gesagt, doch auf welches Versprechen bezog er sich? Ein merkwürdiger Beginn für ein Buch.
„Und wenn es gar nicht der Beginn des Buches ist?“, schoss es ihr auf einmal durch den Kopf. Was, wenn die Seiten der letzte Teil der Geschichte waren? Sie holte Luft, um ihre Gedanken mitzuteilen, wurde jedoch von Yan unterbrochen: „Sila! Schau dir das an!“ Sie standen vor dem fertigen Stadtplan und betrachteten ihn. Silas Augen wurden groß.

Beitrag 97

Die auf dem Stadtplan verteilten Kreuze mündeten durch Linien verbunden in einem Punkt an der Herner Straße unweit des Bergbaumuseums. Sila war ganz aufgeregt. Das konnte doch nicht wahr sein!
„What the hell soll das bedeuten?“ Ray, Yan und Umut standen wie drei Fragezeichen neben dem Puzzle. Normalerweise hätte Sila sich über Rays Denglisch amüsiert. Doch das Lachen blieb ihr im Hals stecken.
Die ganze Sache war ernster als sie vor wenigen Tagen geglaubt hatte. Dieser Punkt auf der Karte – das konnte nur die Bude sein, an der sie mit ihrem Vater damals nach einem Besuch des Bergbaumuseums eine gemischte Tüte gekauft hatte. Zwei Mark gemischt mit ein bisschen Lakritz. Sila wurde heiß und kalt, als sie an das Versprechen dachte, das sie und Kaya sich dort gegeben hatten.

Beitrag 98

Heiß, weil Sila Kaya plötzlich schrecklich vermisste. Kalt, weil sie sich so hilflos fühlte. Was war das für ein Rätsel? Schnell riss sie sich wieder zusammen und erinnerte sich an das Versprechen. Damals saßen Kaya und sie auf den Stufen des Bergbaumuseums am Europaplatz. Kaya schaute ihr in die Augen und sang leise: „Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt! Ist es besser, viel besser als man glaubt. Deine Heimat und Grubengold findest Du hier“, er legte ihre Hand auf sein Herz, „bei mir im Revier!“ Sie versprachen damals, sich nie zu vergessen und pflanzten Vergissmeinnicht in den Garten des Hauses, das Kaya Sila vererbt hatte. Sila kannte die Stelle im Garten ganz genau. Sollte dort etwa...? „Kommt schnell mit! Wir müssen sofort in den Garten zu der Stelle, wo das Vergissmeinnicht wächst“, rief Sila aufgeregt und rannte los.

Beitrag 99

Danach eilten alle zum Auto. Yan fuhr wie der letzte Henker. Abrupt stoppte er.
„My God, das ist dein Garten und dein Haus?“
„Jap“, antwortete Sila. Sie bahnte sich den Weg durch das verwitterte Gartentor und durch das hohe Gras. Alle stolperten ihr nach. Irgendwo hinten blieb sie stehen. „Seht nur, wie sich das Vergissmeinnicht ausgebreitet hat!“
„Ein gutes Omen für euren Schwur“, sagte Yan, alle nickten.
„Aber, was ist das denn? Die lockere Erde da, das sieht aus, als ob da wer kürzlich gewühlt hätte“, stellte Sila fest.
„Jau ei“, stieß Umut aus. Blitzschnell kniete er am Boden nieder und durchpflügte mit beiden Händen die Erde. Dann richtete er sich auf: „Ich hab wat.“ Strahlend hielt er in einer Hand ein kleines Metallkästchen hoch.

Beitrag 100

Umut übergab Sila das Metallkästchen, das bei näherer Betrachtung eine kleine Gravur enthielt: „Versprochen ist versprochen“. Gleich darunter blickte Sila auf ein Zahlenschloss mit dem Buch aus dem Stadtwappen Bochums. Die vier Ziffern rastete sie mit schnellem Finger selbstbewusst ein: „1321 – Bochums Geburtsdatum. Typisch Papa.“
Yan und Umut schauten Sila gespannt über die Schulter, während Ray wild zappelnd seinen Platz suchte. Das Schloss sprang bei der Eingabe der letzten Zahl auf. Mit zitternder Hand umfasste Sila den Deckel des Kästchens, als es plötzlich im Dickicht raschelte.
Geistesgegenwärtig verriegelte Sila das Schloss wieder. „Ich schau mal“, sagte Yan und ging forschen Schrittes in Richtung der Geräusche. Umut folgte ihm wortlos. Ray hingegen wählte den Weg rückwärts und kam dabei ins Stolpern. Nur kurz war Sila abgelenkt, dann waren Yan und Umut nicht mehr zu sehen.

Beitrag 101

Erleichtert vernahm Sila die Rückkehr der beiden. „Nur ein Karnickel“, rief Yan. Nach dem Öffnen des Kästchens zeigten sich ein vergilbter Zeitungsartikel und ein Bild von ihren Eltern vor dem Bierstall in Wattenscheid. In diesem ehemaligen Kultlokal hatten sich Silas Eltern über Freunde kennengelernt. Sie betrachtete die glücklichen Gesichter ihrer Eltern. Wehmütig drehte sie das Bild um und konnte Folgendes lesen: „Die Liebe meines Lebens – für immer.“ Datiert waren diese Zeilen nicht etwa auf eine Zeit, als ihre Eltern noch zusammen waren, sondern auf dieses Jahr. Eines wurde Sila nun klar, ihr Papa liebte ihre Mama also bis zum Schluss. Wieso ging er trotzdem fort? Vorsichtig nahm sie nun den alten Artikel in die Hand und erschrak augenblicklich beim Lesen der Überschrift: „Tragischer Unfall am Förderturm der Zeche Holland!“.

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Beim Blick auf den Zeitungsartikel fiel ihr ganz nebenbei auch eine Besonderheit auf der Rückseite des Fotos auf. Dem Artikel wollte sie sich gleich als nächstes widmen, aber zuerst musste sie mit dem Foto abschließen, das sie so an ihre Kindheit erinnert hatte. Sie erblickte auf der Rückseite des Bildes eine kleine Zeichnung, rechts unten in der Ecke der linken Seite.
„Oh ja, das war dem Vater wichtig gewesen!“, dachte Sila. An dieser Stelle hätte er nun Eintrittskarten, vielleicht vom VfL Bochum, nachgezeichnet haben können, aber Sila erblickte den obligatorischen Sammelbon, in originalgrün vom Bäcker, der für Bochum backt.
„Diese Erinnerung gehört sicher zu Bochum“, freute sich Sila, und sofort schwelgte sie in Erinnerungen. Der Duft von frischgebackenen Brötchen stieg ihr in die Nase.

Beitrag 103

In ihren Träumen an Gebäck und vergangene Tage, wünschte sie sich nichts mehr, als dass diese Suche und Reise durch die Bochumer Vergangenheit ein gutes Ende nehmen würde. Es schauderte ihr beim Titel des Artikels. Diesem alten, von den Jahren gezeichneten Stück Papier, das möglicherweise eine schaurige Tragödie dokumentierte. Unruhig nahm sie den Artikel zur Hand, versuchte die ersten Zeilen zu lesen, doch hielt sie inne. Noch einmal schloss sie die Augen, vernahm den Geruch von Lakritz in einer vor Dekaden gemischten Tüte und den Duft von warmem Gebäck. Dann begann sie zu lesen.

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Mit tiefen Atemzügen las sie den Artikel und blickte zwischendurch mit tränenden Augen die beiden Männer an. Was dort stand, konnte und durfte sie nicht vermuten. Yan brach das Schweigen: „Mensch Sila, jetzt sag schon, wat da steht?“
Ray tauchte aus dem Dickicht auf, verschmutzt und völlig zerkratzt maulte er: „Hey ihr guys, hättet mir sagen können, dass eure Erde so dirty ist.“
All diese Sätze nahm Sila gar nicht mehr wahr. In ihrem Kopf spukte es. „Sollte es Umut gewesen sein, der den Mann vom Turm stieß? Hat Kaya deshalb den Artikel aufgehoben? Ist dies die Wahrheit über das Verhältnis zwischen den beiden? Deckte Kaya jahrelang seinen Cousin?“
Sila sah Umut aus glasigen, versteinerten Augen an.
Jetzt erst wich Umut ihren Blicken aus und wusste, dass sein Geheimnis nicht länger verborgen blieb.

Beitrag 105

Umut schaute zum Gartentor, da packte ihn Sila wild entschlossen am Handgelenk und stellte ihn zur Rede. „Umut, hier steht dein Name als Verdächtiger. Und dass nur ein wackliges Alibi deines Cousins dich vor dem Gefängnis bewahrt hat. Hat Papa für dich gelogen?“
„Hör zu, das ist alles Quatsch, was da steht. Ich habe bei der Sanierung des Förderturms gearbeitet, mehr nicht“, erklärte Umut mit schiefem Blick.
Sila glaubte ihm kein Wort. Verzweiflung machte sich in ihr breit, als sich ein Schalter in ihr umlegte. Völlig unvermittelt warf sie Umut in bester Ringermanier zu Boden und baute sich wie ein drohender Schatten über ihm auf. „Sag – mir – die – Wahrheit“, schrie sie, während ihr Tränen die Wange runter kullerten.
„Okay, ich erzähle dir alles, aber in Ruhe. Und nur unter vier Augen“, brach Umut sein Schweigen.
„Das kannst du vergessen“, sagte Yan aus dem Hintergrund. „Yes, forget it“, wiederholte Ray.
Sila sah es anders.

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