Fortsetzungsroman

Beitrag 126

Sila schloss die Augen. Das konnte alles nur ein schlechter Scherz sein, plötzlich stand ihre Mutter mit Einkaufstüten vor ihr. Sila deutete auf Peter und stellte die entscheidende Frage: „Warum?“ - „Sila, Schätzelein, Wir ham das früher doch auch nicht besser gewusst“, sagte Barbara mit Tränen in den Augen. „Ihr habt meinen Bruder weggegeben, einfach so, weil ihr kein Geld übrig hattet?“ Sila musste sich stark zusammenreißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Sie schaute ihren Bruder an, der benommen und regungslos auf dem Boden saß. „Das war alles nicht so einfach, wie du es dir jetzt vorstellst, Sila. Unsere Ehe ist schließlich an dieser Entscheidung gescheitert und wir haben alles verloren, was wir versucht haben zu retten.“ „Wow“, sagte Peter gleichgültig und schluckte. Sila musste raus, die Anwesenheit ihrer Mutter hielt sie keine Sekunde länger aus.

Beitrag 127

„Kehr gets warte domma! Sila!“, rief Barbara ihr nach.
Sila stand vor dem Terminal und blickte gedankenversunken auf den Bochumer Hauptbahnhof. Erst dieses zähe Rätsel, dann die Offenbarung, einen Bruder zu haben, die Vergangenheit, die alte Heimat. Gedankenversunken nahm sie nur nebenbei ihre Mutter wahr, die wild gestikulierte und sich scheinbar zu erklären versuchte.
„... und wat sollten wa denn machn? Wat hättest du denn gemacht? An meine und Papas Stelle? Weg gerannt bisse, wie immer, sogar bis inne USA."
Fassungslos registrierte Sila die Worte ihrer Mutter. Das war zu viel! Wütend hob Sila den Zeigefinger und deutete damit auf Barbara.
„So! Gets pass ma auf!“, setze sie an.

Beitrag 128

Sila kochte vor Wut. Barbara wusste, dass sie zu weit gegangen war und wie sie nun handeln musste. Es war der natürliche Instinkt einer Mutter. Sie ging einen Schritt auf ihre Tochter zu und drückte sie fest an sich. „Ich liebe dich doch, Kleines“, hauchte sie Sila sanft ins Ohr und streichelte ihr über den Hinterkopf.
Für Sila war das nach den Strapazen der letzten Tage Balsam auf der Seele. Sie fühlte sich endlich wieder geborgen und erinnerte sich an die vielen schönen Momente mit ihrer Mutter. „Ich liebe dich auch Mama“, schluchzte sie in Tränen aufgelöst, als Peter hinzutrat. Die Verzweiflung war ihm ins Gesicht geschrieben.
„Das ist es, warum wir alle hier sind“, unterbrach er die Versöhnung und hielt das Buch in die Höhe: „Wenn ich hier schon keine Liebe bekommen kann, dann will ich wenigstens Antworten!“

Beitrag 129

Barbara sah Peter an und zog ihn zu sich. Sila spürte, wie sehr ihre Mutter mit den Tränen kämpfte. Kein Wunder, hatte sie ihren eigenen Sohn doch auch ewig nicht gesehen. „Es war nicht leicht damals“, sagte Barbara leise.
„Und Papa kam mit der ganzen Situation nicht klar und ist deshalb abgehauen?“, wollte Sila wissen. Sie kannte das Gefühl. Eine Situation der Ausweglosigkeit. Ihre Mutter hatte ja richtig festgestellt, dass auch Sila – ähnlich wie Kaya – einfach abhaute, wenn alles zu viel wurde. So wie nach der Trennung von Yan. Eigentlich unglaublich, dass ausgerechnet Sila mal Bochum den Rücken kehren würde. Jetzt merkte sie, wie ihr ihre Heimatstadt dann doch gefehlt hat.
„Nein, dass Kaya abgehauen ist, hatte noch einen anderen Grund…“, holte ihre Mutter Sila plötzlich wieder aus ihren Gedanken.

Beitrag 130

Barbara griff nach dem Buch und schlug zielgerichtet eine Seite auf. Dort war ein Bild zu sehen, darunter die Worte „Innerer Frieden“.
„Kennste den Jungen auf diesem Foto?“, fragte Barbara.
Peter und Sila sahen sich fragend an. „Irgendwo habe ich dieses Gesicht schon mal gesehen, aber das neben ihm ist eindeutig Kaya“, war sich Sila sicher.
„Der kleine Junge, dat is Pfarrer Gregor und der Mann neben Kaya Pfarrer Manfred“, erklärte Barbara: „Dein Vadda war eine Zeit lang im Kloster vonne Dorfkirche Stiepel, um dat alles richtig zu verarbeiten. Er hat beim lieben Gott dann seinen Frieden gefunden.“
Sila nickte: „Langsam ergibt alles einen Sinn. Wir sollten dringend mal die Königsallee runter nach Stiepel fahren und den Pfarrer besuchen.“
Auch Peter war wieder voller Tatendrang, zu dritt stiegen sie in den Kadett.

Beitrag 131

Doch davor klingelte Silas Telefon. Als sie den Namen auf dem Display sah, schaute sie missmutig zu ihren Begleitern. „Wer ist es?“, fragte Barbara sie.
„Ray“, lautete die Antwort, bei der Sila die Augen verdrehte. Ihre Mutter legte einen verständnisvollen Blick auf, wie es nur Mütter können.
Missmutig nahm Sila das Gespräch an und kam kaum zu Wort. Nach einer Minute konnte sie erstmalig einen längeren Satz sagen: „Ja, ich bin immer noch in 'Bokum'.“ – Pause – „Nein.“ – Pause – „Das habe ich Dir doch erklärt! Das ist wichtig!“ Zwischenzeitig der Wechsel ins Englische: „Family matters!“
Silas Gesicht wurde immer genervter, während sie Ray zuhörte. Dann antwortete sie mit einem Satz, der, wenn er in den USA im Fernsehen ausgestrahlt worden wäre, mehrfach mit Piepen übertönt worden wäre. „Ab nach Stiepel!“, sagte sie den anderen.

Beitrag 132

Auf dem Weg nach Stiepel meldete sich Peter von der Rückbank. „Mach mal Radio an, der VfL spielt heute gegen den BVB.“
Sila schüttelte den Kopf. „Ich kann nur ein Kassettendeck mit Billy Joel bieten.“
Peter zückte sein Handy, klickte auf einen Livestream und schaltete den Lautsprecher an, sodass alle im Auto unverkennbar den Moderator brüllen hörten: „Tor, Tooor, Toooooor, 3:0 für den VfL!“
„Wie kannst du jetzt mit den Gedanken bei Fußball sein?“, fragte Sila entsetzt. „Der VfL ist auch Familie“, entgegnete Peter und stellte auf Kopfhörer um.
Aber auch Sila hatte nicht nur ihre Familie im Sinn. Nach dem Gespräch mit Ray hatte sie ein Verlangen danach, Yan zu sehen. Eigentlich musste die ganze Clique nochmal zusammenkommen, und auch Umut musste sich der Wahrheit stellen. Die Dorfkirche schien der richtige Ort dafür zu sein, dieser Moment der richtige Zeitpunkt. Es fühlte sich für sie an, wie ein großes Finale, größer als die Champions League.

Das Ende von Frank Goosen

In ihrer Ungeduld, endlich alle Fäden dieses Rätsel zusammenzuführen, registrierte Sila genervt, dass der alte, voll besetzte Kadett sogar mit der nur leichten Steigung der Königsallee zwischen der Einmündung Berneckerstraße und der großen Kreuzung mit der Markstraße große Probleme hatte. Dass Peter auf der Rückbank trunken vom Sieg des VfL eine Art Sitztanz hinlegte, machte die Sache nicht besser. Sie schaltete noch mal in den dritten Gang, um mehr Beschleunigung aus dem Wagen herauszuholen und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad, obwohl ihr klar war, dass das keinen Sinn hatte. Von all den Begegnungen der letzten Tage schwirrte ihr der Kopf, Namen und Gesichter, dachte sie, so viele Verbindungen, so viele Fragen, nicht nur das Ruhrgebiet, auch ihr Kopf war ein einziger Schmelztiegel und mittlerweile hatte sie völlig den Überblick verloren. Die Tachonadel mühte sich redlich zitternd, die 60 zu überschreiten, obwohl hier doch schon 70 Stundenkilometer erlaubt waren. Sila konnte nicht erwarten, all die Knoten in ihrem Kopf endlich durchzuschlagen, und wie so oft, wenn sie ratlos war, kam eine plötzliche Müdigkeit über sie, vielleicht war es auch nur der Sauerstoffmangel im engen Auto, jedenfalls musste sie gähnen. Dabei schloss sie für vielleicht eine Sekunde die Augen, und als sie sie wieder öffnete, stellte sie fest, dass die Tachonadel es doch noch auf die Siebzig geschafft hatte, vielleicht auch, dachte sie, weil hier langsam die Kuppe der Steigung erreicht, aber was brüllt denn der Peter so, was meint der mit Rot? Aus dem Augenwinkel sah sie den LKW und plötzlich …

… schreckte sie hoch. Ihr Nacken schmerzte, in der Nase hatte sie den Geruch von altem Papier, wie sie ihn früher oft in der Nase gehabt hatte, wenn sie sich Bücher aus der Stadtbücherei ausgeliehen hatte. Sie war mit dem Kopf auf dem Buch eingeschlafen und hatte einen unpassenden Speichelfleck auf der Seite hinterlassen, auf der es um die Stilllegung der Zeche Holland 1974 ging. Holland, das Fördergerüst, Cousin ihres Vaters, Umut, der damals dabeigewesen war, als sich ein Mann von dem Gerüst in den Tod gestürzt hatte. Das musste das letzte gewesen sein, an das sie gedacht hatte, bevor sie eingeschlafen war.

Sila stand auf und streckte sich. Was habe ich nur für ein krudes Zeug geträumt, dachte sie. Yan, Uli und Marie waren darin vorgekommen, die alte Clique. Onkel Umut natürlich, dessen Hang zu Nachlässigkeiten in der äußeren Erscheinung ihr Traum noch drastischer erschienen war als in der Realität. Wie lange hatte sie den nicht gesehen?

Dass sie im Traum auch noch geträumt hatte, von ihrer türkischen Großmutter – das fand sie besonders krass. Allerdings nicht so krass wie die Sache mit Peter, ihrem früheren Nachbarn, der bei der Post gearbeitet hatte, im Traum aber erst ihr Halb-, dann ihr Zwillingsbruder gewesen war. Sogar Ray war vorgekommen, obwohl sie den schon vor Jahren in den Wind geschossen hatte.

Wie üblich war im Traum alles ein bisschen übertrieben gewesen. Auch die Sache mit dem Sieg des VfL gegen den BVB hatte nicht gestimmt. Das Spiel letzte Woche war nicht 3:0 für den VfL ausgegangen, sondern 4:0, das letzte Tor aus 48 Metern, durch diesen Spieler, der es mittlerweile zu seinem Markenzeichen gemacht hatte, Treffer aus unmöglichen Entfernungen zu erzielen.

Sie setzte sich wieder hin und blätterte in dem Buch weiter bis zu den letzten Seiten, die noch leer waren. Ihr war schon klar, was ihr Vater von ihr erwartete. Und ich muss mich bei Mama melden, dachte sie. Und ich brauche frische Luft.

Sie ging nach unten, öffnete die Tür und hielt inne. Praktisch auf der Schwelle saß eine ungewöhnlich große Taube. Sila hatte den Eindruck, die Taube sah sie an, zuckte mit dem Kopf hin und her und richtete mal das eine, dann das andere Auge auf sie. Nicht praktisch, wenn man wichtige Sinnesorgane seitlich am Kopf hat, dachte sie. Aber was rede ich, dachte sie, diese Tiere finden aus Hunderten von Kilometern zurück in den heimischen Schlag.

Die Taube machte keine Anstalten, zurückzuweichen. Scheu war sie offenbar nicht. Sila ging in die Hocke und betrachtete das Tier genauer. Goldene Federn, konnte das sein? Jetzt hob die Taube auch noch ein Bein und streckte es Sila wie zur Begrüßung entgegen. An dem Bein war eine kleine Kapsel. Sila griff danach und konnte sie erstaunlich leicht vom Taubenbein lösen, und auch das Öffnen bereitete ihr keine Probleme. Zum Vorschein kam ein Papierröllchen.

Die Taube überschritt die Türschwelle und betrat an Sila vorbei das Haus. Es sieht komisch aus, eine Taube laufen zu sehen, dachte Sila. Die Taube schien sich hier wie zu Hause zu fühlen.

Sila entrollte das Papier und las, was darauf geschrieben stand. Okay, dachte sie und grinste. Das hier ist nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas.

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